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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Augen! Hatte sie es schon errathen? Kam sie, um ihn zu bestrafen oder ihm zu vergeben? Er beobachtete sie lange und immer vergebens. Sie schien ihm gegenüber völlig gleichgültig und vermied jedes Alleinsein mit ihm. Francis war ihr anfangs dankbar, daß sie sich mit Guy so angelegentlich beschäftigte, bald aber beschlich ihn ein Gefühl von eifersüchtiger Sorge und Furcht bei der wachsenden Vertraulichkeit Beider. Guy war eine Natur, die für Melusine einen Reiz haben mußte. Eine Künstlerseele schlief in dieser zarten und schönen Hülle, die sich in jener wunderlichen Welt, in welche sie sich geschleudert sah, offenbar so unbehaglich fühlte, wie ein Schmetterling an einem kalten Tage. Ein Dichtertalent schlummerte in Guy Howard, es trieb dann und wann eine Purpurblüthe, an deren Duft sich Tausende erquickt haben würden, wenn er sie nicht vor Aller Blicken verborgen hätte. Für seine Familie war er von Jugend auf der Gegenstand zärtlichster Sorge gewesen. Man beschränkte ihn in keiner Weise in seinen Studien und Neigungen und hoffte ihn dermaleinst die Stelle eines Geistlichen bekleiden zu sehen, die ihm Muße genug ließ, seinen Büchern zu leben. Lord Francis versuchte die ideale Richtung seines Wesens etwas der Wirklichkeit zuzuwenden, indem er ihm das Leben und – die Frauen zeigte, allein seine Bemühungen waren umsonst. Guy sah nur, glaubte nur, was er sehen und glauben wollte. An der Stelle jeder zerstörten Blüthe sproßte augenblicklich eine neue hervor. Seine Augen blickten tief wie echte Dichteraugen und entdeckten in jedem Wesen einen idealen Zug, unter jeder Maske das wahre Bild. Lüge und Berechnung, wo sie sich ihm enthüllten, machten ihn nur traurig, nicht bitter und hoffnungslos.

Und Guy sah und hörte Melusine. Wie elektrische Funken flog es von ihr zu ihm hin, als er zum ersten Mal vor ihr stand. Der eine Augenblick, als ihre seegrünen Augen unter dem Schleier der langen Wimpern ihn anstrahlten wie ein Meer, über dessen zitternden Spiegel Wolken hinfliegen, entschied über sein Geschick. Es giebt eine magnetische Wirkung der Seele auf die Seele, ein Verlorensein auf den ersten Blick, ein Gefühl der Rettungslosigkeit einem Augenpaar gegenüber, was auch die Skeptiker dagegen sagen mögen. Guy empfand dies Alles bei der ersten Begegnung mit Melusinen. Welch’ eine seltsame Frau! Und diese Frau hatte sein Bruder geliebt – liebte sie nicht mehr! Konnte man aufhören diese Frau zu lieben, wenn ihre Lippen einmal die Lippen eines Mannes berührt, wenn ihre Hand in der seinen gezittert? Aber hatte Melusine seinen Bruder je geliebt? So fragte er sich oft. Ihre Augen waren unergründlich wie das Meer, dessen Farbe sie trugen, ihre Hand legte sich so langsam, ohne alle bebende Hast in Francis’ Hand, ihre Stimme blieb so ruhig, als sie ihn begrüßte.

Melusine dachte nach jenem Wiedersehen den ganzen folgenden Tag an Guy, in dessen Antlitz kein Zug sie an den Geliebten erinnerte.

„Wie schön ist Guy und wie ähnlich seinem Bruder!“ sagte Cyrilla zu ihrer Cousine, als sie allein waren.

„Ich finde Francis häßlich und langweilig geworden,“ antwortete Melusine. Er hat rothe Wangen bekommen und wird stark. Wie kann man den blassen, dunkellockigen Knaben mit ihm vergleichen! Die Beiden stellen Tag und Nacht vor. Ich liebe den Mond mehr als die Sonne – Du weißt es!“

Seit jenem Tage begleitete Francis seinen Bruder stets zu Cyrilla und war Zeuge, wie sich allmählich ein wundersames Verhältniß bildete zwischen der Frau, die ihn einst um die Besinnung gebracht, und dem Jüngling, welchen er so sehr liebte.

(Schluß folgt.)




Eine Leipziger Künstlerwerkstatt.

Ich war fertig mit Allem, was es in Leipzig zu „sehen“ giebt; das ist für den durchreisenden Fremden, der nicht kauft oder verkauft und nicht Zeit hat zu näherer Bekanntschaft mit der Leipziger Gesellschaft, nicht eben allzuviel. Das Rosenthal mit seinen schönen Bäumen und Wiesen – der Stolz der Stadt – war geschaut und gekostet, d. h. Kaffee getrunken in dem auch auswärts renommirten „Schweizerhäuschen“; das Museum mit seiner kleinen, aber zum Theil sehr werthvollen Gemäldesammlung durchwandelt; eine Fahrt über die Hauptpunkte des Schlachtfeldes unternommen; ein Abend bei Concert und bunten Lichtern im Schützenhausgarten verbracht worden, – es war Mittag und erst Abend ging der Bahnzug ab, der mich weiter tragen sollte … wie konnte ich die Stunden tödten bis dahin?

Etwas mißmuthig über die drohende Langweile, saß ich an der Wirthstafel meines Hotels, neben mir ein ältlicher Herr, in welchem die weiche Aussprache seines Deutsch und der singende Accent den geborenen Leipziger nicht verkennen ließen.

„Wissen Sie, daß Werner zurück ist von seiner Reise in den Orient?“ wandte er sich zu seinem Gegenüber, einem echten pleißathenischen Cockney.

„So,“ erwiderte dieser. „Hat er hübsche Sachen mitgebracht?“

„Ganz prächtige Skizzen, wie ich höre; namentlich aus Jerusalem,“ versetzte der Andere. „Ich will ihn diesen Nachmittag in seinem Atelier besuchen und seine neueste Mappe durchblättern.“

„Schade, daß ich nicht mit kann, ich muß in die Vorstandsitzung der … Eisenbahn,“ sagte das vis-à-vis.

Die Unterhaltung der Beiden hatte mich aus meiner mürrischen Gleichgültigkeit gerissen.

„Nimmt Werner in seinem Atelier auch den Besuch von namenlosen Fremden an?“ frug ich meinen Nachbar.

„Warum nicht?“ lautete die Antwort; „er ist der liebenswürdigste Mann, den man sich denken kann.“

Und so war es denn bald abgemacht, daß ich den alten Herrn zu dem Künstler begleitete.

Der in einer der westlichen Vorstädte gelegene sogenannte Lehmann’sche Garten – ehedem ein wirklicher großer Garten, jetzt meist parcellirt und mit casernenartigen Häuserzeilen bebaut – war das Ziel unserer Wanderung. Ziemlich am Ende des Grundstücks stieß uns ein alleinstehendes, von Blumen und Büschen umgebenes freundliches Haus entgegen.

„Hier wohnt Werner,“ erklärte mein Begleiter. „Sie sehen, er hat sich ganz leidlich zu betten gewußt.“

Wir traten ein. Der erste Blick bekundete mir, daß hier eine künstlerisch empfindende Frau dem Hauswesen vorstand; Treppe, Vorsaal, Zimmer – überall war der Rücksicht auf Schönheit ebenso viel Rechnung getragen, wie der auf Bequemlichkeit und Comfort. Das Allerheiligste des Hauses aber, das Atelier, erwies sich als eine rechte Heim- und Arbeitstätte der Kunst, zeigte daß ein Mann hier waltete, der sein ganzes Leben der Kunst gewidmet und sich durch sie die äußeren Mittel erworben hat, welche den Genuß des Daseins erheitern und erheben.

An der Thür zur Künstlerwerkstatt sehen wir einen schwerseidenen Thürvorhang herabrollen, welcher einst dem durch seine Ausgrabungen in Rom berühmten Cardinal Albani gehörte. In dem Zimmer selbst befinden sich geschnitzte Schränke aus Raphael’s Zeit, florentinische Arbeit; ferner ein altvenetianischer Bücherschrank aus Titian’s Tagen, ein Schränkchen von Salvator Rosa mit zwei Skizzen von demselben, einst auch in dessen Besitz. Die Stühle und Tische sind altitalienisch, die letzteren mit altitalienischen Decken belegt. An der Wand hängen mittelalterliche Lauten und Mandolinen, desgleichen mittelalterliche Waffen, unter diesen eine altitalienische Armbrust. Auf den Schränken stehen chinesische Vasen.

Inmitten dieser altehrwürdigen Erinnerungen an große Künstler und große Kunstzeiten steht der lebende und lebensvolle Künstler an seiner Staffelei und zeichnet und malt mit sicherer Hand und Alles wohlberechnendem Auge. Er ist von mittlerer, kräftiger Gestalt, lebhaft und leichtbeweglich. Sein Kopf, von blondem Haar und vollem Bart geziert, trägt das Gepräge einer höheren Geistesrichtung, wovon auch die Züge seines Antlitzes Zeugniß geben. Ein Grundzug seines Wesens ist eine sich stets gleichbleibende Heiterkeit, zu der sich eine freundliche, allseitig wohlwollende Güte gesellt, der wohlzuthun Freude ist.

Alljährlich einmal – so erzählte er mir selbst – veranstaltet er eine Bilderschau: da verwandelt er alle seine häuslichen Räume zu Ausstellungshallen, wo die zahlreich eingeladenen Beschauer einen hohen Genuß finden durch die Betrachtung der vortrefflichen Kunstwerke und der künstlerisch ausgestatteten Räumlichkeiten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_676.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2022)