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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Herz und Mund förderten die schönsten Ideen zu Tage. Er aber ergriff schließlich die Büste Pestalozzi’s und trug sie im Saale umher. Eine feierliche Procession erfolgte. Sein Herz floß über von Verehrung und Dankbarkeit, und unvergeßliche, das ganze Sein bis auf das Mark erschütternde und zur Treue und zur That entflammende Worte entströmten seinen Lippen. Die Feier rauschte vorüber. Wir jungen Männer aber fühlten in tiefster Seele, was Pietät, was Dankbarkeit sei, und wir nahmen uns vor, treu zu bleiben, auch wenn sie Alle untreu würden, und für die freie Entwickelung der Menschennatur und die Entwickelungsfreiheit der cultivirten Menschheit, für die Pestalozzi den Kampf auf dem Gebiete der Erziehung eröffnet hat, unser Leben voll und ganz einzusetzen.

Es entstand der Gedanke, für die Waisenerziehung im Pestalozzi’schen Sinne durch Errichtung von Pestalozzistiftungen zu wirken. Er fiel auf fruchtbaren Boden, und an verschiedenen Punkten des deutschen Vaterlandes blühten derartige Anstalten auf – schöne Denkmäler jener erhebenden Feier! Zur Gründung derselben war natürlich die Beihülfe Vieler erforderlich. Ein Gesuch um Unterstützung gelangte auch an die höchste Stätte. Es wurde abschlägig beschieden. Der Geist, so hieß es, der sich in Diesterweg’s Bestrebungen und namentlich in der Pestalozzifeier kund gegeben, sei nicht der Pestalozzi’sche Geist, und man werde seine Unterstützung so lange zurückhalten, bis man die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man es sich zur alleinigen Aufgabe mache, „in wahrer christlicher Liebe und Selbstverleugnung die Idee der Waisenerziehung verwirklichen zu helfen.“

Wie war uns jungen Leuten denn? War das keine christliche Liebe und Selbstverleugnung, die sich in der ganzen und vollen Hingabe Diesterweg’s an die erziehliche Aufgabe der Gegenwart, an seinen Beruf kundgab, die ihn in der frühesten Frühe an den Arbeitstisch und zu der rastlosesten Anstrengung zum Wohle der Kindheit und des Lehrerstandes trieb, die ihn 1820 den festen Entschluß fassen ließ, abzusehen von der Wirksamkeit an den Gelehrtenschulen und Angesichts der geistigen und materiellen Noth des Volks mit allen Kräften, die ihm Gott verliehen, für die Bildung des Volkes zu wirken? War das nicht Selbstverleugnung, welche Diesterweg trieb, sich als einen geringen Schüler des Mannes hinzustellen, dessen Menschenliebe die Quelle der heutigen Volkserziehung geworden ist und der trotz aller welterbarmenden Liebe und Hingabe dennoch der Unchristlichkeit bezichtigt wurde?

Es war eine andere Zeit gekommen. Auf das Ministerium Altenstein folgte das Ministerium Eichhorn. Das Hegelthum beherrschte nicht mehr die Geister, sondern hatte einer orthodoxen, sogenannten neulutherischen Richtung Platz gemacht, und diese Richtung, welche mit dem Pestalozzi’schen Principe der freien Entwickelung und der Erziehung zur Selbstthätigkeit und Selbstständigkeit, zur geistigen Freiheit des Individuums in unversöhnlichem Gegensatze steht, gelangte zur Macht und zu einem Alles bestimmenden Einflusse.

3. Die Achse bricht wieder.

Es traten in Berlin Vereine für das Wohl der arbeitenden Classen in’s Leben. Es gebührt dem Jugendschriftsteller Ferdinand Schmidt die Ehre, in Betreff ihrer Errichtung und Förderung bestimmenden Einfluß ausgeübt zu haben. Die Leute, welche sich zum Wohle des Volks zusammengethan hatten, hielten gar lebhafte und bewegte Versammlungen. Es nahte eine neue Zeit. Schon waren die Sturmvögel im Anzuge. Und sie benützten jede Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. So auch die Versammlungen des Vereins für das Wohl der arbeitenden Classen. In einer besonders stürmischen Sitzung war der Präsident, ein Bürgermeister Berlins, nicht vorhanden. Hatte er geahnt, was kommen werde? Diesterweg, der Vicepräsident, präsidirte gezwungen und nothgedrungen. Die Versammlung nahm einen für die damalige Zeit auffälligen, ja unerhörten Verlauf. Die Zeitungen verkündeten das Schreckliche. Diesterweg hatte am Präsidententische gestanden: die Achse knarrte.

Im Jahre 1845 feierte man im Tivoli bei Berlin unsern Pädagogen, der vor einundzwanzig Jahren das Seminardirectorat in Mörs übernommen hatte. Die Sturmvögel hatten sich auch diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Wieder berichteten die Zeitungen; wiederum hatte Diesterweg an der Spitze gestanden: die Achse knarrte zum zweiten Male. Vor den Jünglingen im Seminar erschien mitunter ganz plötzlich, wie ein Dieb in der Nacht, ein kleiner, freundlicher Mann mit geröthetem Gesichte. Alle freuten sich über seine Erscheinung und beantworteten gar gern seine Fragen, die Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, geistige Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit verriethen. Er stand offenbar mit unserm Meister in dem freundschaftlichsten Verhältnisse und Einer freute sich, wenn der Andere erschien. Dieser Mann, der Schulrath Lange, blieb plötzlich aus und an seine Stelle trat eine breite, vierschrötige Gestalt mit einem Auge und sehr entschlossenen, aber auch geistvollen Zügen des Antlitzes. Die Jünglinge betrachteten diesen Wechsel mit Bangen; denn der Meister hielt sich verschlossen und still; ja er scheute offenbar jede Begegnung mit dem neuen Schulrath Otto Schulz. Der Mann zeigte sich übrigens leutselig und freundlich; aber der Meister verschwand, und das war genug, um Alle mit banger Besorgniß zu erfüllen.

Das Jahr 1847 kam in’s Land. Eine Untersuchungscommission erschien. Der Director blieb im Kämmerlein und ließ Alle untersuchen, die Lust dazu hatten. Wer hätte etwas Anderes finden können, als eine wohlorganisirte und eigenthümlich geleitete Schule, einen Kreis begeisterter und strebsamer Jünglinge, ein geeinigtes und anhängliches Collegium? Dennoch wurden die Gemüther wie durch Gewitterschwüle geängstigt und zusammengepreßt. Die Jünglinge steckten die Köpfe zusammen und erzählten von gar sonderbaren Fragen, die der eine Untersuchungsrichter in Betreff ihres Directors an sie gerichtet habe. Dieser Eine unterrichtete auch die Seminaristen. „Es sei keine Kunst,“ so redete er zu ihnen, „tüchtig zu antworten bei einem solchen Lehrer, wie ihr Director einer sei; er wolle sehen, ob man auch unter der Führung einer geringeren Größe zu folgen wisse.“ Und so fragte er, und die Antworten erfolgten, wie die Fragen lauteten, und die durch böse Ahnungen gefolterten Seelen gaben sich einer wunderbaren Naivetät und Offenherzigkeit hin. Die Augen des so innig Verehrten leuchteten; sein Antlitz lächelte: er erkannte die Seinen. Man sollte anklagen und mußte doch laut loben. Fast schien es, als seien die Untersuchenden die Angeklagten. – Und dennoch! Einige Monate gingen vorüber. Am Eingange in die erste Etage des Hauses Nr. 29 in der Oranienburger Straße standen die Worte: „Diesterweg in Amtsgeschäften zu sprechen um 12 Uhr“. Eine jugendliche Hand hatte dabei bemerkt: „Leider nicht mehr!“ Die Achse war wieder gebrochen. Im Juli 1847 wurde der Meister seines Postens enthoben.

4. Am Hafenplatz.

Und jetzt wohnt der Meister in einem hübschen Hause am Hafenplatz. Und vor ihm liegt das Denkmal auf dem Kreuzberge, welches an das Kreuz erinnert, an welches das nicht volksthümliche Preußen bereits genagelt war, und an den gewaltigen Sprung, den das volksthümliche Preußen vom Kreuze herab that und der so kühn war, daß der größte militärische Genius unserer Zeit dadurch von seiner Höhe herabgestürzt wurde. Der Geist, welcher den pädagogischen Altmeister stürzte, hat sich seinen Ausdruck gegeben in den bekannten preußischen Regulativen, deren Forderungen alle dem entgegen stehen, wofür er ein langes Leben hindurch gerungen und gearbeitet hat. Er hat diese Regulative bekämpft mit aller Schärfe und Energie seines Geistes; er ist auch am Hafenplatz nicht müde geworden, für die Geltendmachung des Princips der freien, organischen Entwicklung in der Schule und im Leben zu wirken. Er ist aus dem letzten Unfalle unversehrt hervorgegangen, wie damals an der Ecke der Oranienburger Straße. Geblieben ist ihm seine volle Arbeitskraft, seine geistige Frische, die Liebe seines Herzens zur Menschheit, die ihn stets getrieben hat, gegen sein eigenes Interesse für Wahrheit, Recht und Menschenwohl, für Freiheit und Freimachung der Geister zu kämpfen und zu dulden. „Er durfte nur wie Andre wollen, und wär’ nicht leer davon geeilt.“ Geblieben ist ihm endlich die Liebe zu unserer Nation, der er gern zu einer wahrhaften National-Volksschule, die an die Stelle der Confessionsschule zu treten hätte, verhelfen möchte. Er schätzt nach wie vor mit Lessing das Streben nach Wahrheit höher als die Wahrheit selber, haßt die Charakterlosigkeit, Lug und Trug und sucht die Lehrerwelt anzufeuern zu selbstständiger ruheloser Strebsamkeit. Er sucht ihnen, den Lehrern, eine bessere Stellung zu erringen, der Schule eine gedeihliche Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Immer noch arbeitet er wie ehedem; ja, obgleich er dem ihm eigenthümlichen Boden entrissen ist, aus dem er stets reichliche

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