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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Bei diesem Gedanken schlug sein Herz höher und heiße Tropfen drängten sich ihm aus den Augen. So kam er an den Kunsttempel, in dem er heute die ersten Sporen verdienen sollte, und eilte über die Bühne weg in seine Garderobe. Als er über das Podium schritt, ertönte im Zuschauerraum ein dumpfes Gemurmel und zwischendurch ein langgezogenes, schmerzliches Gestöhn, ein Wimmern, so markerschütternd, daß den jungen Künstler ein Schauer überlief, von dem er sich keine Rechenschaft zu geben wußte. Vergebens suchte er eine Oeffnung in der Gardine zu erspähen, um hinauszublicken; die Zeit drängte, er mußte sich in’s Costüm werfen, wollte er nicht seine ganze Existenz auf’s Spiel setzen. Auf die Frage, was denn im Theater passirt sei, erhielt er die Nachricht, eine arme Frau sei von der Galerie in’s Parterre gestürzt und habe sich schwer verletzt. Sie habe den Eingang nicht erwarten können, sei hastig vorwärts geeilt, um auf der vorderen Bank noch einen guten Platz zu finden, habe die Brüstung in dem noch nicht erleuchteten Hause übersehen und sei mit zerschmetterten Gliedern in die Reihen der glücklicherweise noch leeren Parquetsitze herabgestürzt.

Umsonst suchte der Musenjünger den unbegreiflich qualvollen Eindruck von sich abzuschütteln, welchen die bangen Schmerzenstöne aus dem Zuschauerraum auf ihn ausgeübt, diese Töne, die ihm gänzlich fremd und doch so bekannt erschienen waren und die ihn selbst während der Aufregung des Spiels in fieberhafter Spannung erhielten! Der Vorhang war, der Debütant hatte gefallen. Schon nach der ersten Scene trat der Director auf ihn zu und erklärte ihm, daß er seine Anstellung als definitiv betrachten könne. Wie kam es, daß dieses früher so heiß ersehnte freudige Ereigniß ihn jetzt kalt und zerstreut ließ? Immer weilten seine Gedanken bei jenen Tönen, die ihm durch Mark und Bein schnitten. Das Stück ist beendet; im Begriff, das Haus zu verlassen, tritt dem jungen Mann der Regisseur entgegen.

„Muth, mein Junge, Muth! Eile nach Hause, Deine Mutter –“

„Meine Mutter!“ kreischt der arme Künstler auf, „meine Mutter, sie war jene Frau –“

„Ja wohl, mein guter Bursche.“

Seiner nicht mehr mächtig, zitternd, greift der Jüngling in die Tasche, kein armer Pfennig ist darin zu finden. Woher Geld nehmen zu einer Droschke, die ihn mit Windeseile an das Schmerzenslager der armen Frau führt, die mit zerbrochenen Gliedern ihren Sohn erwartet, den zu sehen sie in’s Schauspielhaus geeilt war, wo sie vor Aufregung über die Barriere stürzte, weil sie nicht Geduld genug besaß, die Erleuchtung des Theaters abzuwarten, da ihr sonst Andere zuvorkommen und die besseren Plätze hätten wegnehmen können? Der Arme schämte sich, Jemandem seine bittere Noth zu gestehen und die paar Groschen für ein Fuhrwerk zu erbitten. So schnell ihn seine Füße tragen, läuft er wimmernd und unter Thränenströmen der fernen Vorstadt zu, wo wir ihn hingestürzt über den zerschlagenen Körper der Mutter finden, in einem dunklen Kämmerchen auf dem ärmlichsten Lager. Und nichts, nichts auf der Welt sein zu nennen, um ihr die geringste Erleichterung zu schaffen! Der Arzt hatte sich nach dem nöthigen Verband schnell entfernt, einige Nachbarn, ebenso arm wie die Verunglückte, hatten sich eingefunden, mehr aus Neugierde, als aus Theilnahme. Man denke sich den Jammer des armen Burschen! Da plötzlich zuckt ihm ein Gedanke durch’s Gehirn! „Nein, Mutter,“ ruft er entschlossen aus, „Du sollst nicht mehr hungern und darben; ich fühle es, wir stehen am Wendepunkte unseres Geschickes, ich schwöre Dir, meine arme, gute Mutter, Dein Sohn wird für Deine Zukunft sorgen.“

Mit dem Morgengrauen verkauft der junge Mann sich und sein Talent an den Bandenführer Schmidtkow, der ihm eine Monatsgage als Vorschuß bewilligt. Freudestrahlend legt er die eilf Goldstücke in die Hände seiner Mutter, entsagt den langgepflegten Hoffnungen einer schnellen Laufbahn am kaiserlichen Hoftheater und bricht am nächsten Morgen mit seinem neuen Chef, dessen Hauptstütze er wurde, nach dem fernen Wilna auf.

„Du sollst Vater und Mutter ehren
Auf daß es dir wohl ergehe auf Erden.“

Man hat von mehrern Seiten behaupten wollen, jener Unfall der armen Frau bei dem Debüt ihres Sohnes habe nicht stattgefunden, allein ich muß dabei stehen bleiben, daß sich die Scene wirklich zugetragen hat, wie ich sie schilderte, denn der Sohn selbst hat sie mir erzählt.




Eine lange Reihe von Jahren ist vergangen. Wir sind im September 1865. Am großen kaiserlichen Hoftheater in Warschau drängen sich schon um die Mittagsstunde Schaaren von Schaulustigen. Der Abend findet Alles dort versammelt, was an glänzenden Namen, an hervorragenden Persönlichkeiten in der reichen polnischen Hauptstadt zu finden ist.

Eine endlose Reihe von Equipagen harrt am Ausgange ihrer glücklichen Besitzer. Ein armer polnischer Knabe hatte sich durch seinen eisernen Willen, durch sein Genie emporgearbeitet zum hochgefeierten deutschen Künstler; heute hat er sich bewegen lassen, die Bühne seiner Vaterstadt zu einem wohlthätigen Zweck zu betreten, seiner Vaterstadt, in welcher er anwesend ist, zum Besuche seiner Mutter, seiner Mutter, der er sein Wort redlich eingelöst hatte. Wieder finden wir die arme Frau mit gebrochenem Arm, abermals hatte sie die Sehnsucht, den heißgeliebten Sohn, der ihr Segensengel geworden war, recht früh zu sehen, hinausgetrieben; sie war unglücklich gefallen und hatte dadurch das eben erwähnte Unglück erlitten. Aber wir finden die alte Frau auf einem Krankenlager, welches mit allem Comfort umgeben ist, den Wohlstand und die zarteste Kindesliebe nur ersinnen können. Da die Mutter sich nicht entschließen konnte, die wechselvollen unruhigen Künstlerfahrten des berühmten Sohnes zu theilen; da sie mit Zähigkeit an der Heimath fest hielt, so wurde ihr diese verschönt mit Allem, was der verwöhnteste Geschmack zu fordern berechtigt ist.

Jede Ovation, die ein entzücktes und dankbares Publicum erdenken kann, wurde an jenem Abend dem genialen Künstler zu Theil, aber keine hat ihn mehr beglückt, als das dankbare Lächeln, mit welchem ihm seine Mutter bei der Heimkehr aus dem Theater die gesunde Hand entgegenstreckte.

Ich erzähle diese einfache Geschichte aus der Laufbahn eines Künstlers, weil in diesem Moment mein Blick auf dessen Medaillon fällt, welches von dem trefflichen, leider bereits heimgegangenen Bildhauer Ritschel in Marmor ausgeführt ist. Die Umschrift trägt den Namen: Bogumil Dawison.




Die Locke der Charlotte Corday.
(Schluß.)

Unruhig schritt die junge Frau auf und ab, dann blieb sie stehen und preßte ihre Stirn an die Scheiben. Unten im Park war schon Alles in tiefe Finsterniß gehüllt.

„Nicht wahr, Du liebst ihn, Kind?“ rief das Fräulein voll heller Freude. „In solche Unruhe geräth man nur um einen Mann, den man liebt. Gott sei gelobt! Dein Herz ist erwacht!“

Melanie antwortete nicht, aber sie wendete sich langsam zu der treuen Pflegerin ihrer Kindheit um, schlang die Arme um ihren Nacken und brach in ein heftiges Weinen aus. „O, wie das Herz mir schwer ist, so schwer, als ob ich ein Verbrechen verübt!“ rief sie.

Mit sanften Worten redete ihr Ludmilla Köhler zu. Sie küßte die Thränen von den schönen Wangen und bat Melanie wiederholt, an Paris und ihr lustiges Leben dort zu denken und an tausend Dinge, die der Seele der jungen Frau jetzt so fern lagen, wie man ein Kind tröstet, das um ein zerbrochenes Spielzeug schluchzt. Aber es wollte eben nichts helfen, und erst als der Schritt des Dieners hörbar wurde, richtete sich die junge Frau hastig auf und trocknete ihre Thränen. Es war Jacques, der ein wenig verstört eintrat und berichtete, wie sein Herr in der Begleitung eines Fremden in sein Zimmer gegangen; dort habe er ihn laut und heftig reden hören, und dann seien Beide in den Park hinabgegangen, wohin sein Herr ihm aber zu folgen verboten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_686.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)