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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

bei den stillen Todten auf dem Friedhofe ist einem Aufenthalt an diesem furchtbaren Orte zu solcher Zeit kaum zu vergleichen; dort glauben wir nur Entsetzliches zu sehen – hier sehen wir es wirklich, fühlen es, wenn wir die Hand ausstrecken.




Während die Gläser an Cyrilla’s Tafel klangen und Melusine sang, an jenem Abend des Allerseelentages, trat Guy mit zögernden Schritten in die Gesellschaft der Todten mit den täuschenden Larven des Lebens. Ein betäubender Duft schlug ihm entgegen und verwirrte seine Sinne, ein kühler, fremder Hauch, wie aus Särgen, wehte ihn an. Er durchwanderte eine Reihe von Sälen, ohne seine eigenen Schritte zu hören. Todesschweigen überall. Und doch schienen alle diese Menschen miteinander zu reden und zu lächeln, und doch drängten sie sich in seinen Weg, doch standen sie in dichten Reihen zu beiden Seiten und ließen ihn gleichsam Musterung passiren, und die Fernerstehenden hoben sich, wie es ihm schien, auf den Zehen und reckten sich lang und immer länger, um mit eisigen Blicken zu ihm herüberzustarren. Die Laterne in seiner leise bebenden Hand warf blitzartige Lichtstreifen auf alle diese Gestalten. Schwere Sammet- und Seidengewänder fielen in tiefen Falten herab, königlicher Purpur wallte von stolzen Schultern, die längst in Staub zerfallen; eine vornehme Gesellschaft gekrönter Häupter folgte dem kühnen Fremdling mit fragenden Blicken. Es war ihm jetzt, als ginge hinter ihm her ein leises Rauschen und Flüstern durch die Reihen. Sein irrender Blick streifte manche sorgenvolle, müde Stirn, manches schwermüthige, edle Frauengesicht, manche Züge, die ihm aus Bildern bekannt und vertraut waren.

Vorüber, vorüber; immer eisiger wehte es ihn an. Da stand das Sterbebett des großen Kaisers. Auf dem weißen Kissen lag das imposante Haupt in der Starrheit des Todes und auf der Decke ein Spielzeug des Königs von Rom, der im Garten zu Schönbrunnen schlief. In den Fensterscheiben jenes Kaiserwagens, dessen Räder nach der Schlacht von Waterloo den großen Feldherrn forttrugen, blitzte das Licht der Laterne wieder. Alles, Alles regungslos rings umher. Gruppe an Gruppe schien sich zusammengedrängt zu haben, um ihn anzuschauen, zürnend und drohend. Es war ihm, als erstarre er selber allmählich zu Eis. Schwer und schwerer wurde sein Schritt. Die alte, lähmende Furcht der Kinderzeit, jenes Entsetzen vor der täuschenden Nachahmung des warmen Lebens, der nichts fehlte, als die Bewegung, schlich durch seine Adern. Weiter, weiter, er mußte vollenden. Wie Feuer brannte die Rose Melusine’s in seiner Hand. Es war ihm, als nähme diese furchtbare Wanderung nimmer ein Ende, als dehnten sich die Räume gespensterhaft in unabsehbare Ferne aus, als rausche und dränge es sich ihm jetzt langsam nach in endlosem Zuge. Schneller und schneller hastete er sich und kam doch nicht von der Stelle. Endlich, endlich öffnete sie sich vor ihm, schwarz, wie das Grab selber, jene dunkle Kammer, das Ziel seiner Wanderung, von der er seit seiner Kindheit so viel Grauenhaftes gehört. Beim Eintritt über ihre Schwelle klangen die Worte Dante’s in sein Ohr:

„Laßt alle Hoffnung, die hier ein Ihr tretet.“

Hatte sie ihm eine fremde Stimme in’s Ohr geflüstert, hatte er sie selber laut ausgesprochen? Er hob die Laterne – da stand die Girandole, seine Hand zündete die Kerzen an. Barmherziger Gott, ihr erster Lichtstrahl fiel auf die blutige Brust Marat’s, erloschene Augen hoben sich zu ihm auf; das Wasser des Badebeckens, in dem der Körper lag, war blutig gefärbt. Guy wendete sich schaudernd ab, aber nur um neues Entsetzen zu empfinden. Das Haupt Maria Antoinette’s in der furchtbaren Blässe des Todes starrte ihm entgegen. Die schönen Augen waren geschlossen, die feinen Lippen zusammengepreßt, das ergraute Haar hing wirr um die eingesunkenen Schläfe, die so oft Rosen umkränzt hatten. Unfern von ihnen tauchte das Hyänengesicht Bacon’s, des grausamen Giftmischers, auf, nicht weit von ihm standen die gräßlichen Leichenräuber Burke und Hare in ihren zerlumpten Kleidern. Warfen sie ihm nicht gierige Blicke zu? Flüsterten sie nicht miteinander, als er sich eben schaudernd wegwandte, streckten sie nicht ihre langen Hände nach ihm aus, fühlte er nicht schon ihre eisigen Finger an seinem Nacken? Dicht daneben grinste das Schreckensantlitz des scheußlichen James Bloomfield Rush, jenes Mörders, der sich an den Todesqualen seiner Opfer weidete und mit Lust Kinder, Weiber und zahllose junge Mädchen auf die grausamste Weise tödtete.

Halb bewußtlos taumelte er weiter. Ein Holzgerüst hemmte seinen Weg. Die rothgefärbten Balken hoben sich gespenstisch von dem schwarzen Grunde der Wand. Es war die Guillotine, neben ihr zu beiden Seiten standen zwei Körbe mit blutigen Sägespähnen, bestimmt, Kopf und Rumpf der Hingerichteten aufzunehmen. Ueber ihr hing dasselbe furchtbare Messer, dessen Stahl das Blut Maria Antoinette’s und zweiundzwanzigtausend anderer Opfer der französischen Revolution getrunken, jenes haarscharfe Instrument, das so manchen stolzen Hals, so manchen blendenden Nacken erbarmungslos durchschnitten.

Das Maß des Schreckens war erfüllt, Guy sank zusammen. Allerlei Hände langten aus dem Dunkel nach ihm, um ihn nach der Guillotine zu zerren, ihn zu binden und auf jenes schmale Bret dort zu schnallen; das Messer zuckte über ihm, allerlei Gesichter und Gestalten erschienen an der Thür, um zuzuschauen. Seine Hände falteten sich, die Laterne stürzte zu Boden. Wie ein verlassenes Kind nannte er jetzt den Namen des Engels seiner hülflosen Jugend, der ihn schon einmal vor dem Schrecken dieser Räume rettete, den Namen seiner Mutter, die schon längst bei den Todten schlief. „Mutter, Mutter, hilf mir fort! Sende mir einen Engel, der mich erlöse!“ rief er, mit irren Blicken umherschauend.

Da stieß es plötzlich einen Schrei aus. Was war das? Warmes, wirkliches Leben unter den Larven, ein menschliches Wesen unter den Todten? Er war nicht mehr allein! Der volle Lichtschein fiel auf eine Frauengestalt, die auf einem Ruhebett ausgestreckt lag. Das schönste Antlitz, das seine Augen je erblickt, lächelte ihm entgegen. Ein schwarzes Gewand umschloß den herrlichen Körper, Hals und Schultern waren unbedeckt, in sanften Athemzügen hob und senkte sich die Brust. Die geöffneten, thaufrischen Lippen hauchten Liebe, die strahlenden blauen Augen mit den langen Wimpern hoben sich, um ihn zärtlich anzuschauen. Die reizende Hand reckte sich empor, um ihm zu winken. „Wer bist Du?“ fragte Guy aufstehend, um neben ihrem Lager niederzuknieen.

„Ich bin Madame St. Amaranthe,“ antwortete sie leise, „dort, jenes Ungeheuer im dunkeln Winkel, Robespierre nannten sie ihn, ließ meinen schönen Hals von dem kalten Messer hier durchschneiden, weil ich mich weigerte, den Furchtbaren zu lieben. Löse nicht das schwarze Band von meinem Nacken, Du würdest den blutigen Streifen sehen; o, er ist so häßlich! Sieh, ich lebe – höre, wie ich athme; schau her, lege Deine Hand auf meine Brust – ich athme, wie Du. Ich warte lange, lange auf Dich, um Dich zu lieben. Jetzt bist Du da und wirst bei mir bleiben! Warum zögertest Du so viele, viele Nächte?“

„Bist Du die schönste Frau Frankreichs?“ flüsterte er, in ihrem Anschauen verloren; „nein, Du bist die schönste Frau der Schöpfung. Und Du willst mich lieben?! Sag’ es noch einmal!“

„Noch liegt es wie ein schwerer Bann auf mir, noch kann ich mich nicht erheben, um Dich an mein Herz zu ziehen, Du mußt mich erst küssen! Komm, fürchte Dich nicht. Meine Lippen sind jetzt kalt, aber sie werden aufglühen, wenn Du sie berührst. Viele waren es einst, die um meine Liebe warben. Ganz Paris lag zu meinen Füßen. Ich habe viele Herzen von mir gestoßen, mit vielen gespielt, bis jene grauenvolle Zeit kam, wo mein Gatte beim Sturm der Bastille fiel und Robespierre mich bei der Leiche des Helden erblickte. Von jenem Augenblick an verfolgte er mich, er lag zu meinen Füßen, er schwur, mich zu lieben, ich wendete mich mit Abscheu von ihm. Mit einem lächelnden Blick hätte ich das Leben vieler meiner Freunde erkaufen können, ich that es nicht. Die Liebe des Schrecklichen wurde zum Wahnsinn, endlich zum Haß. Er drang einst in mein Zimmer und ließ mir nur eine Wahl, sein Haus oder – das Schaffot. Mein armer, schöner Hals! Hättet Ihr den Muth gefunden, ihn zu durchschneiden, und wenn hundert Robespierre Euch gedroht? Kommt, küßt seine Narbe, daß sie wieder heile.“ Und das Band verschob sich, ein feiner, rother Streif ward sichtbar. „Bin ich nicht trotzdem schöner, als jene Frau, die Dich hierher sandte?“ fragte sie mit süßem Lächeln. „Gebt mir die Rose, die Ihr so fest in Eurer Hand haltet und bleibt bei mir. Sie liebte Euch nicht, aber ich, ich will Dich lieben. Ich schütze Dich vor allen Gespenstern. Sei ruhig, lege Deine müde, heiße Stirn an mein Herz.“

Noch einmal schaute er zu ihr auf, wie ein rosiges Licht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_691.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)