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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Aus den Gängen und Kerkern der Londoner Zwingburg.
Bastille und Tower. – Das Fallgatter und das Wasserthor des Towers. – Die Treppe der Hochverräther. – Elisabeth als Gefangene im Tower. – Die Verschwörung der Catostraße. – Arthur Thistlewood, der letzte Gefangene des Towers. – Kronjuwelen und Rüstkammer. – Die Stelle des Blutgerüstes. – Walter Raleigh’s Hinrichtung. – Sein Opfer der Wahrheit. – Der Beauchampthurm und seine Lauschergänge. – Jane Grey. – Der blutige Thurm. – Anna Boleyn und ihre Damen. – Overbury’s Ermordung. – Die Gehängte mit gelben Manschetten und Halskrausen. – Der Tod im Malvasierfasse. – Die Söhne Eduard’s. – Bloods’ Verschwörung, sein Anschlag auf den Herzog von Ormond und sein Attentat auf die Kronjuwelen. – Die Krone der Königin Victoria.

Vor wenigen Tagen ist in Lord Palmerston einer der letzten Zeugen der größten Ereignisse der Zeit gestorben. 1785 geboren, betrat er die öffentliche Laufbahn 1806 während des Kriegs, den England mit dem Aufgebot seiner ganzen Kräfte führte, um den in Frankreich geborenen Geist zu besiegen, und wurde in seinem spätern Leben selbst ein Förderer der großen Maßregeln der Katholiken-Emancipation, der Reformbill und der Freihandelsgesetze, durch die England jenen neuen Geist in seine Verhältnisse verpflanzte. Während derselben Zeit aber gelangte Frankreich fast wieder am Ausgangspunkte seiner großen Bewegung an. Es befand sich ja in den letzten Lebensjahren Palmerston’s in der Aera der Cäsaren, die mit dem, was die Franzosen ihr altes Regime nennen, eine mehr als oberflächliche Aehnlichkeit hat. An die Stelle der Bastille sind Lambessa und Chayenne getreten, aber drüben in England hat sich der Tower vor fünfundvierzig Jahren geschlossen und wird weder irischen Feniern noch andern Verschworenen und Rebellen seine Thore wieder öffnen.

Die Bastille und der Tower sind Wahrzeichen der geschichtlichen Entwickelung Frankreichs und Englands. In Frankreich hat sich der Despotismus gesteigert und gesteigert, bis das Volk endlich aufgestanden ist und mit den Bourbons wie mit ihrer Zwingburg abgerechnet hat. So ist die Bastille von der Erde verschwunden und blos ein Platz erinnert durch seinen Namen „Bastillen-Platz“ an die schauerlichen Gefängnisse, in denen freie Denker und Freunde des Volks, leichtsinnige Höflinge und witzige Spötter, ungehorsame Söhne und unbequeme Ehemänner gelitten und geseufzt haben. In England hat sich der Despotismus in allmählichen Uebergängen, die freilich bisweilen blutig genug gewesen sind, zu einem verfassungsmäßigen Staatsleben umgestaltet, und ungebrochen erheben sich noch heute die Mauern und Thürme seiner Zwingburg, des Towers. Damit der finstere Bau auch an die Schattenseite eines langsamern Umbildungsprocesses, Veraltetes über seine Zeit hinaus zu conserviren, erinnere, existirt an einem seiner Thore das einzige Fallgatter des britischen Reichs, das in einem noch brauchbaren Zustande alle Wandlungen des Belagerungskrieges überlebt hat.

Der Tower liegt an der Grenze der Altstadt gen Osten und bildet den Kern, an den sich das neue London angesetzt hat. In alten Zeiten trat die Themse dicht an ihn heran, jetzt trennt ihn ein Damm vom Flusse. In jener frühern Zeit muß das Wasserthor des Towers, als seine architektonischen Züge nicht verstümmelt waren, den Charakter finsterer Größe entfaltet haben. Jetzt verdeckt ein Quai diese ganze Seite des Towers und die „Treppe der Hochverräther,“ über der sich ein Bogen von wunderbarer Kühnheit erhebt, ist fast ganz verbaut. Den obern Theil des Thores nehmen jetzt Amtsstuben ein und entstellen ihn auf jede erdenkliche Weise, und die düstere Stille dieses Eingangs hat dem Geräusch einer Dampfmaschine weichen müssen, mit deren Hülfe man Waffen aufwindet und hinunterläßt. Das Schüttern der Maschine hat einen der beiden Thürme des Wasserthores bereits so beschädigt, daß man ihn hat untermauern müssen. Als noch wichtige Gefangene durch das Wasserthor eingebracht wurden, konnte man mit zwei Booten zugleich unter dem Fallgatter hindurch und bis zur Treppe der Hochverräther fahren. In einer stürmischen Regennacht legte hier ein Boot an, in dem ein junges, blühendes Mädchen, die spätere Königin Elisabeth, saß. Immer finster und argwöhnisch, hatte ihre Schwester sie ihrem Asyl zu Ashridge in der Grafschaft Herford entrissen und nach manchem Umherfahren zu Plätzen, die immer noch nicht genug Sicherheit zu bieten schienen, in den Tower führen lassen. Ein Windstoß schleuderte den Regen eben klatschend gegen die Treppe, als die Prinzessin ausstieg. Ein Herr überreichte ihr seinen Mantel, aber sie stieß ihn mit der Hand kräftig zurück. Als sie die gefürchteten Stufen hinauf ging, rief sie laut: „Hier landet eine Gefangene, aber eine so gute Unterthanin, als je eine diese Stufen betreten hat. Das schwöre ich bei Dir, mein Gott, dem einzigen Freunde, den ich habe.“

Nach Elisabeth haben noch manche Gefangene die Treppe der Hochverräther betreten, die letzten im Jahre 1820. Die „Verschwörung der Cato-Straße“ führte die Unglücklichen dorthin. Der Leiter derselben war Arthur Thistlewood, ein ehemaliger Officier, der früher in einen Proceß wegen Aufruhrs verwickelt gewesen und später, weil er den Minister Lord Sidmouth gefordert hatte, zu einjähriger Haft verurtheilt worden war. An Thistlewood schlossen sich mehrere Radicale an, aber auch zwei Spione der Regierung, Oliver und Edwards, wohnten den Versammlungen der Verschworenen bei. Diese wollten die Minister ermorden und ihr Plan war anfänglich der, jeden einzeln in seinem Hause zu überfallen. Als sie aber hörten, daß Lord Harrowby am 23. Februar ein Ministeressen geben werde, machte Thistlewood den Vorschlag, „einen Fischfang seltener Art zu thun und alle zusammen zu ermorden“. Einige der Verschworenen sollten vor dem Hause Wache halten, bis alle versammelt seien. Dann sollte einer an der Thür klopfen, um eine angebliche Depesche zu übergeben. War geöffnet, so drang der ganze Schwarm ein und stürzte nach dem Zimmer, wo die Minister speisten. Nach vollbrachter That wollte man die Casernen anzünden und das Volk aufrufen, die Bank und den Tower zu plündern.

Die Minister erfuhren durch Edwards Alles, nahmen aber scheinbar keine Noliz davon. Die Vorbereitungen für das Essen wurden in Lord Harrowby’s Hause bis acht Uhr fortgesetzt, aber die Gäste kamen nicht. Zufällig gab der Erzbischof von York, der eine Thür weiter wohnte, an demselben Abend eine Gesellschaft, und das Vorfahren der Wagen täuschte die wachehaltenden Verschworenen so lange, bis es zu spät war, ihre Genossen zu warnen. Diese hatten sich über einem Stall auf einem Boden versammelt, zu dem man auf einer Leiter hinaufsteigen mußte. Während sie hier beim Lichte von einigen Kerzen ihre Waffen in Stand setzten, drangen Polizeibeamte in den Stall. Der erste, der die Leiter hinaufstieg, wurde von Thistlewood durchbohrt. Es fielen Schüsse, die Lichter wurden ausgelöscht und in der Dunkelheit und Verwirrung entkamen Thistlewood und mehrere Andere durch ein Bodenfenster. Neun wurden denselben Abend noch mit ihren Waffen fest genommen. Auf die Nachricht davon begaben sich die Minister, von denen jeder einzeln in seinem Hause gespeist hatte, zu Lord Liverpool und verabredeten weitere Maßregeln. Auf Thistlewood’s Verhaftung wurde ein Preis von tausend Pfund gesetzt, und schon am nächsten Morgen um acht Uhr nahm man ihn bei einem Freunde im Bett gefangen. Er, Ings, Brunt, Tidd und Davidson wurden zum Tode verurtheilt und in Old Bailey geköpft. „Wo ist Edwards?“ rief das Volk bei der Hinrichtung. Von den Uebrigen wurde einer begnadigt und die übrigen fünf auf Lebenszeit transportirt.

Als Therry 1830 Bathurst in Neusüdwales besuchte, las er auf einem Ladenschilde: „Wilson, Schneider aus London“. Wilson war einer der fünf transportirten Verschworenen. Wegen Wohlverhaltens war er auf Widerruf entlassen worden, hatte eine Frau genommen und war jetzt der vielbeschäftigte Modeschneider des ganzen Bezirks. In Bathurst lebte noch ein zweiter Verschworener, Strange. Er war viele Jahre Polizeiinspector des Bezirks und der Schrecken aller Strauchdiebe gewesen. Dieselbe tollkühne Verachtung der Gefahr, die ihn dem wilden Thistlewood empfahl, machte ihn zu einem unschätzbaren Sicherheitsbeamten. Bald nach seiner Ankunft war er begnadigt worden, weil er den berüchtigsten Straßenräuber der Gegend in einem furchtbaren Einzelkampfe auf offener Haide besiegt und gefangen eingebracht hatte. Wenn es bekannt wurde, daß „der Mann der Catostraße“ die Straßen, die durch Wegelagerer unsicher gemacht werden, bereiten wolle, so ergriff alles Gesindel schleunigst die Flucht. Der bloße Name Strange war für die friedlichen Einwohner ein Schutz. Gegenwärtig lebt er gleich einem Patriarchen am Fischflusse in der Nähe von Bathurst, umgeben von Kindern und Enkeln, die alle tüchtige Menschen sind und dem alten Manne den behaglichsten Wohlstand verschafft haben.

Nach den Verschworenen der Catostraße hat, wie gesagt, kein Gefangener den Tower mehr betreten. Wer ihn jetzt besucht, kommt, wenn er nicht in dem großen Arsenal beschäftigt ist, um die Kronjuwelen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_728.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2022)