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zu sehen. Will man außerdem noch die Rüstkammer besuchen, so hat man am Eingang, an den der Tower-Hügel angrenzt, zwei Billets zu lösen und jedes mit sechs Pence (etwa fünf Neugroschen) zu bezahlen. Beim Eintritt fühlt man sich sogleich in die Vergangenheit versetzt, denn alle Aufseher und Diener sind wie die Yeomen der Leibwache Heinrich’s des Achten gekleidet. Der Weg zu den Sehenswürdigkeiten führt an einem Platze vorbei, an dem die furchtbarsten Erinnerungen haften. Man sieht neben der St. Petrus geweihten Capelle ein großes Oval schwarzer Steine und hört, daß es die Stelle bezeichne, wo vordem das Blutgerüst aufgeschlagen wurde.

Wir wollen keine lange Namenliste der „Hochverräther“ aufstellen, die an diesem Platze geendet haben. Die meisten waren unschuldig, Opfer des Argwohns eines tyrannischen Königs, oder der Heimtücke von Feinden. Aber eine Erinnerung wollen wir nicht zurückweisen. Bei dem Anblick dieses Ovals schwarzer Steine steigt die poetische Gestalt Sir Walter Raleigh’s, des Gelehrten, Seefahrers und Entdeckers, des Freundes und Genossen von William Shakespeare, vor uns auf. Dreimal führte man ihn in den Tower, das erste Mal wegen einer heimlichen Liebschaft mit einem Hoffräulein, die freilich am Altar den legitimsten Ausgang fand, von der Königin Elisabeth aber nichts desto weniger für unsittlich und verbrecherisch gehalten wurde. Die dritte Gefangenschaft Raleigh’s entstand durch eine falsche Anklage, welche ihn der Theilnahme an einer Verschwörung gegen Jacob den Ersten verdächtigte. Der Ankläger nahm seine Beschuldigung vollständig zurück, aber Raleigh wurde dennoch verurtheilt und hingerichtet. Fröhlicheren Herzens ist nie ein Mann in den Tod gegangen. Als er das Gerüst bestieg, sah er, daß ein Bekannter von den Wachen zurückgedrängt wurde. „Ich habe es besser, Cheston,“ rief er ihm zu, „mir nimmt Niemand meinen Platz.“ Ein Mann mit einem ganz kahlen Kopf drängte sich herzu. „Hier, Freund,“ sagte Raleigh, nahm seine reichgestickte Mütze ab und setzte sie dem Fremden auf, „nimm sie und trag’ sie mir zum Andenken; Du hast sie nöthiger als ich.“ „Ich gehe zu Gott,“ sagte er, als er zum Block trat, und berührte das Beil. „Das ist eine scharfe Arznei, aber sie befreit von allen Leiden.“ Selbst der Henker schrak davor zurück, einem so wackern und berühmten Manne den Tod zu geben. „Was fürchtest Du Dich,“ sagte Raleigh, „schlage zu, Mann!“

Im Tower schrieb Raleigh seine Weltgeschichte. Auf ihn ist eine Anekdote zurückzuführen, die man mit einigen Abweichungen von mehreren andern Historikern erzählt. Er saß eines Tages am Fenster, tief in Gedanken versunken, wie er seiner Pflicht, die reine geschichtliche Wahrheit zu geben, am besten genügen könne. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch einen großen Lärm unten im Hofe erregt. Ein Mann schlug einen andern, der ein Officier zu sein schien, sein Schwert zog und seinen Feind durchbohrte. Dieser stürzte zu Boden, hieb aber den Officier vorher noch so über den Kopf, daß auch dieser niedersank. Die Wache kam und führte den Mörder fort, während andere Leute die Leiche forttrugen. Am andern Tage erhielt Raleigh den Besuch eines Freundes und erzählte ihm die Scene.

„An dem Allen ist kaum ein wahres Wort,“ sagte sein Gast. „Der angebliche Officier war kein Officier, sondern der Kammerdiener eines fremden Gesandten. Er war es, der schlug, und der sein Schwert zog und seinen Gegner damit durchbohrte, das war eben der Andere. Niedergeschlagen wurde der Mann, aber nicht von Deinem sogenannten Officier, sondern von einem der Umstehenden.“

„Aber, lieber Freund,“ sagte Raleigh, „ich habe ja Alles mit meinen Augen gesehen, dicht vor mir. Dort ist die Stelle, wo der hohe Stein steht.“

„Mein theurer Raleigh,“ antwortete der Freund, „gerade auf jenem Steine saß ich, als das Ganze vorfiel, und diese kleine Schramme auf der Backe erhielt ich, als ich dem Mörder das Schwert entriß. Auf meine Ehre, Du irrst Dich in allen Punkten.“

Als Raleigh allein war, warf er den zweiten Band seiner Geschichte in’s Feuer. „Wie viele Unrichtigkeiten werden darin stehen!“ seufzte er. „Wenn ich ein Ereigniß nicht feststellen kann, das unter meinen Augen vorgegangen ist, wie darf ich da wagen, Dinge zu beschreiben, die vor tausend Jahren gespielt haben! Wahrheit, Wahrheit, dieses Opfer bin ich Dir schuldig.“

Raleigh saß im Beauchamp-Thurm, der eine interessante Reliquie der Kriegsbaukunst im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ist. Dieser Thurm, der nach seinem ersten Gefangenen Beauchamp Grafen von Warwick benannt wird, hat drei große Zimmer übereinander. Das unterste liegt zum Theil unter der Erde und muß ein furchtbarer Aufenthalt gewesen sein. In den Mauern der beiden oberen Zimmer laufen Gänge mit verborgenen Oeffnungen gegen die Gefängnisse hin, in denen Spione die Unterhaltungen und Selbstgespräche der Gefangenen belauschten. Eine ähnliche Einrichtung hat man im „blutigen Thurm“ aufgefunden. Bei der Restauration des Beauchamp-Thurms im Jahre 1853 hat man die Inschriften an den Wänden durch chemische Mittel wiederhergestellt. Die rührendste unter allen ist die Wiederholung eines Vornamens: „Jane, Jane“. Lord Guilford Dudley kritzelte sie in die Wand, ehe er mit seiner schönen siebzehnjährigen Gemahlin Lady Jane Grey, zum Blutgerüst ging, um mit ihr das Verbrechen zu büßen, daß sich die arme Lady Jane gegen ihren eigenen Willen von einem Ehrgeizigen einige kurze Augenblicke auf einen Thron hatte setzen lassen, der allerdings nicht ihr, sondern der „blutigen Marie“, Elisabeth’s Vorgängerin, gebührte. Daß eine Haft im Tower auch gute Folgen haben konnte, deutet die Inschrift an:

Wen dieses Haus nicht bessern kann,
Der ist fürwahr ein schlechter Mann.

Auch Anna Boleyn, die zweite Gemahlin des grausamen Heinrich’s des Achten, ging im Tower ihren letzten Gang (1536). Der König war ihrer überdrüssig, beschuldigte sie der Untreue und ließ sie im Tower hinrichten. „Ihre Damen,“ schrieb Crispin vierzehn Tage nach der Hinrichtung, „hoben sofort den Kopf und die Leiche auf. Die armen Frauen schienen ohne Seelen zu sein, so schwach und hinfällig waren sie, aber da sie fürchteten, daß ihre Herrin von Männerhänden roh angefaßt werden würde, so zwangen sie sich, ihre Pflicht zu thun, und obgleich sie halb todt waren, schafften sie die Leiche doch in weiße Tücher gehüllt fort.“ Wohin? Man weiß es nicht. Nach einer Ueberlieferung ist der Kopf in Salle, nach einer anderen in Thornden on the Hill begraben worden. In beiden Kirchen zeigt man einen schwarzen Stein, der die Stelle bezeichnen soll. Was den übrigen Körper betrifft, so hat man vor einiger Zeit bei Arbeiten in einem Keller des Towers ein weibliches Gerippe ohne Kopf gefunden und sogleich der Erde zurückgegeben. Anna Boleyn war klein und zu einem Körper dieser Art hatte die Reliquie gehört.

Im Beauchampthurm hat die teuflische Ermordung Sir Thomas Overbury’s gespielt. Overbury, ein Staatsmann aus Jacob’s des Ersten Zeit, hatte nach Kräften gegen die Verheirathung der Lady Essex mit dem Grafen Somerset gewirkt und die Dame dadurch zu seiner Todfeindin gemacht. Tag und Nacht sann sie auf seine Vernichtung. Zuerst bot sie Sir John Wood tausend Pfund, wenn er den Gegenstand ihres Hasses im Duell tödte. Darauf denuncirte sie Overbury wegen Verachtung der königlichen Autorität. Sie wollte ihn blos in ihre Gewalt bekommen und erreichte ihren Zweck durch seine Abführung in den Tower, dessen neuer Lieutenant völlig in ihrem Interesse war. Am 15. December 1613 wurde Overbury in seinem Gefängnisse todt gefunden und schleunigst begraben, weil er an einer ansteckenden Krankheit gestorben sei. Erst zwei Jahre später wurde die Sache untersucht und das an Overbury begangene Verbrechen entdeckt. Die Schuldigen waren Lady Essex und ihr Mann, Graf Somerset, Elwas, der Lieutenant des Towers, der Gefangenwärter Weston, der Apotheker Franklin und Mistreß Turner, Gesellschafterin der Gräfin Somerset. Die Turner war nächst der Gräfin die Strafbarste, denn sie hatte die Ausführung des Planes geleitet und für die Mittel gesorgt. Man mischte in Overbury’s Speisen und Getränke Alles, was schädlich war, oder dem Vorurtheil der Zeit dafür galt, Scheidewasser, weißen Arsenik, Quecksilber, Diamantenstaub, Lapiscortilus, große Spinnen und Kanthariden. In sein Salz mischte man Arsenik, statt Pfeffers gab man ihm Kanthariden, kurz, Alles war vergiftet, was er genoß. Gegen alle Betheiligten erging ein Todesurtheil, aber Graf Somerset und seine Frau erlangten eine Strafmilderung. Man zog ihr Vermögen ein und hielt sie einige Jahre im Tower in Haft. Mistreß Turner war eine sehr schöne Frau und hatte auf die Mode großen Einfluß gehabt. Ihr Todesurtheil hatte den Zusatz, daß sie „mit ihren gelbgestärkten Manschetten und Halskrausen von Gaze gehängt werden solle, da sie die erste Erfinderin und Trägerin dieser scheußlichen Tracht sei“. Genau in diesem Anzuge bestieg die Turner, die sich außerdem auf eigne Hand geschminkt hatte, die Leiter und wurde

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_729.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2022)