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„Rath Goethe“ zu Frankfurt a. M., sah aber der genialen Mutter weit ähnlicher, als dem etwas nüchternen, pedantischen Vater. Nachdem er einen guten Unterricht genossen, Vielerlei gelernt, auch manche Allotria getrieben, reiste er jetzt in guter, befreundeter Gesellschaft nach der berühmten Universitätsstadt Leipzig, um sich auf den Wunsch seines Vaters dem Studium der Jurisprudenz zu widmen.

Vor hundert Jahren, wo es bekanntlich noch keine Eisenbahnen gab, war eine Reise von Frankfurt am Main nach Leipzig keine Kleinigkeit und es fehlte auch nicht an Abenteuern. Der Weg war schlecht, vom Regen der Boden aufgeweicht und es dunkelte bereits, als sich der schwerbepackte Reisewagen zwischen Hanau und Gelnhausen langsam die Höhe hinaufschleppte. Der junge Goethe wollte, trotzdem es schon finster war, lieber zu Fuß gehen, als sich der Gefahr aussetzen, umgeworfen zu werden. Da plötzlich erblickte er auf seiner nächtlichen Wanderung in der Tiefe eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Unzählige Lichter blitzten und flimmerten zu ihm empor, unruhig auf- und niederschwebend, gleich einem Geisterreigen. Waren es warnende Irrlichter, welche aus dem alten Steinbruch aufstiegen, oder eine leuchtende Elfenschaar, die den künftigen Dichter grüßte?

Dem poetischen Wunder folgte die prosaische Wirklichkeit nach; der Weg wurde immer schlechter, bis endlich im spätern Verlauf der Reise der Wagen in der Gegend von Auerstädt stecken blieb. Da half kein Rufen und kein Schreien um Hülfe, Niemand kam und die Reisenden mußten aussteigen und selbst die Hand anlegen, um die versunkene Equipage wieder flott zu machen; dabei strengte sich der angehende Student so sehr an, daß sich die Bänder seiner Brust übermäßig ausdehnten und er eine lange Zeit andauernden Schmerz empfand. Jedoch wurden diese Strapazen bald vergessen, als Goethe gerade zur Meßzeit glücklich in Leipzig anlangte. Er war jung, lebenslustig, auch fehlte es ihm nicht an Geld und Empfehlungen. Vor Allem aber besaß er den frischen Muth der goldenen Jugend und eine hinreißende Liebenswürdigkeit, durch die es ihm leicht wurde, nicht nur die Herzen der Frauen, sondern auch den Beifall und die Anerkennung sogar älterer und bedeutender Männer zu gewinnen.

Leipzig selbst gefiel ihm mit seinen schönen, hohen Gebäuden und reinlichen Straßen, die er nach allen Richtungen, besonders gern im Mondenschein durchstrich, wenn sie halb beschattet, halb beleuchtet ihn zu einer nächtigen Promenade einluden. Auch die Bewohner mit ihrem feinen Ton, ihrem gesitteten Wesen und anständigen Manieren sagten ihm zu. Mit Recht galt Leipzig vor hundert Jahren für eine der ersten Städte in Deutschland und war tonangebend für Literatur, Sitte und Mode. Lessing, der daselbst gelebt, rühmte, daß man hier die Welt im Kleinen sehen kann, und Goethe selbst sagte später in seinem Faust: „Mein Leipzig lob’ ich mir, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Der Handel blühte, die berühmten Messen zogen eine große Menge von Fremden aus allen Weltgegenden herbei, tüchtige Männer lehrten an der Universität und in den bürgerlichen Kreisen herrschte allgemein Wohlstand und eine in dem übrigen Deutschland seltene Bildung.

Einstweilen sah sich Goethe nach seiner Ankunft nach einem passenden Quartier um, das er in dem Hause „zur großen Feuerkugel“ am Neumarkt fand. Er bezog daselbst zwei artige Zimmer auf dem Hofe, ließ sich von dem Rector Magnificus Ludwig in die Zahl der akademischen Bürger aufnehmen und, wie es der Brauch in jener Zeit verlangte, in die „bairische Nation“ als Student inscribiren. Darauf zog er sein bestes Tressenkleid an, das der Bediente seines Vaters, ein ehemaliger Schneidergeselle, verpfuscht hatte, und stattete dem Herrn Professor Böhme, dem er empfohlen war, seine erste Visite ab. Dieser nahm den jungen Studenten freundlich auf und stellte ihn seiner Gattin, einer kränklichen, zarten und feingebildeten Dame, vor. Sie nahm sich seiner freundlich an, lehrte ihm Piquet und l’Hombre, tadelte seinen Frankfurter Dialekt und seine unmodische Garderobe, die er gegen eine neue vertauschen mußte, übte aber vor Allem einen günstigen Einfluß auf seinen Geschmack aus, so daß er eines Tages alle seine mitgebrachten Versuche, „Poesie und Prosa, Pläne, Skizzen und Entwürfe sämmtlich zugleich auf dem Küchenheerde verbrannte.“

Bald langweilten ihn auch die Collegien, selbst der berühmte Gellert, vor dem seine leidenschaftliche Prosa keine Gnade fand, genügte ihm nicht. Seine Hefte verzierte er mit Caricaturen, und als die „köstlichsten Kräpfeln“ in der Nähe des Professors Winkler ihm warm aus der Pfanne entgegendufteten, war es um seine juristischen Studien geschehen. Dagegen interessirten ihn die naturwissenschaftlichen Gespräche einiger Mediciner, mit denen er gemeinschaftlich bei den Hofrath Ludwig den Mittagstisch einnahm, und regten ihn zum Nachdenken an. Vorzugsweise aber beschäftigte er sich mit Literatur, Kunst und dem Studium des Alterthums, wovon Herr Professor Böhme in seinem Haß gegen Alles, was nach schönen Wissenschaften schmeckte, nichts wissen wollte. Nebenbei besuchte er die bessere Gesellschaft, Bälle, Concerte, Assembléen, wo er tanzte und einem „gnädigen Fräulein“ die Cour schnitt, das ihn durch ihre Koketterie „avec un air hautain“, wie sein Freund Horn in einem Briefe nach Frankfurt berichtet, zu bezaubern schien. Trotzdem aber fühlte er sich „einsam, ganz einsam“ und litt an jener eigenthümlichen Melancholie, welche die Jugend umschwebt, wie die aufgehende Morgensonne von Dünsten und Wolken umschwebt wird.

Das wurde freilich anders, als sein Freund und Landsmann Schlosser nach Leipzig kam, dem zu Liebe er in dem kleinen Hause am Brühl Nr. 79 bei dem Weinhändler Schönkopf speiste. Die Frau war eine geborene Frankfurterin aus guter Familie und ihre Tochter, welche die Gäste bediente, ein reizendes Mädchen von neunzehn Jahren, mit freundlichen ansprechenden Zügen, frisch und natürlich, ohne jede Koketterie, gut und verständig, sanft und gefühlvoll. Bald hatte sich Goethe in das holde Käthchen verliebt, und sie erwiederte mit unschuldiger Zärtlichkeit seine Neigung. Beide sangen gemeinschaftlich die Lieder von Zachariä am verstimmten Clavier, spielten auf dem Liebhabertheater den „Herzog Michael“ von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der in dem Stücke auftretenden Nachtigall vertrat, und verstiegen sich sogar bis zu Lessing’s „Minna von Barnhelm“, worin sie natürlich die Hauptrolle übernahmen und unter fremder Firma der eigenen Neigung um so unbefangener folgen konnten. Es war eine schöne Zeit, als die Geliebte ihm täglich den goldenen Wein kredenzte, in dem sich ihr holdes Bild spiegelte, als sie unter den Gästen ihn vor allen durch ihre zärtlichen Blicke und ihr geheimes Lächeln auszeichnete.

Zu der Liebe gesellte sich noch die Freundschaft, indem sich Goethe zu dem zehn Jahre älteren Schlosser, der später sein Schwager wurde, trotz der Verschiedenheit ihres Alters und Wesens hingezogen fühlte. Mit ihm besuchte er die bis jetzt vernachlässigten Leipziger Notabilitäten, zuvörderst den damals hochberühmten und später mit Unrecht geschmähten Professor Gottsched, der im „goldenen Bär“ bei dem Buchhändler Breitkopf wohnte. Die Freunde ließen sich, wie Goethe selbst erzählt, bei dem angesehenen Gelehrten melden. Der Bediente führte sie in ein großes Zimmer, indem er ihnen sagte, der Herr würde gleich kommen. Wahrscheinlich hatten sie eine Gebehrde, die derselbe machte, nicht verstanden, so daß sie glaubten, er habe sie in das anstoßende Zimmer gewiesen. Sie traten herein und erlebten die sonderbarste Scene, denn in diesem Augenblick erschien Gottsched in der entgegengesetzten Thür, ein großer, breiter, riesenhafter Mann, in einem gründamastnen, mit rothem Taffet gefütterten Schlafrock, das ungeheure Haupt kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein, denn der Bediente sprang mit einer großen Allongenperrücke auf der Hand – die Locken fielen bis auf den Ellenbogen – zur Seitenthür herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockener Miene. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perrücke von dem Arm des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiele zu geschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der Herr Professor seine Gäste gravitätisch zum Sitzen nöthigte und einen ziemlich langen Discurs mit gutem Anstande durchführte.

Nachdem Schlosser Leipzig verlassen hatte, um eine Stelle als Geheimsecretair bei dem Herzog Friedrich von Würtemberg anzunehmen, schloß sich Goethe nun um so inniger an die Geliebte an. Beide waren jung und schön, aber die Jugend und der Lenz sind auch am meisten von Stürmen bewegt und erschüttert. Trotz seines Glückes war Goethe damals mit sich zerfallen, seine dichterischen Leistungen genügten ihm nicht mehr, er zweifelte an seinem Talent, und doch trug er bereits unbewußt in seiner Brust eine Welt, die nach Gestaltung rang, faßte ihn ein Sehnen nach Unsterblichkeit und führte ihn weit über den friedlichen Kreis eines immer beschränkten Liebesglückes hinaus. Unzufrieden mit sich selbst, verstimmt über sein nutzloses Treiben, ließ Goethe seine Launen an der unschuldigen

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