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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Geliebten aus, indem er sie mit seiner Eifersucht quälte, mit seinen Widersprüchen kränkte. Bald hatte sie einen oder den andern Gast zu freundlich angesehen, zu viel mit dem gesprochen und mit jenem gar gelacht; bald fand er sie zu heiter, dann wieder zu traurig, bald zu nüchtern, bald zu schwärmerisch, sie sollte nicht mit Andern tanzen, ohne ihn nicht in Gesellschaft gehen. Heute schmollte er mit ihr und zeigte ihr keine freundliche Miene, morgen überhäufte er sie mit seiner Zärtlichkeit, mit Aufmerksamkeiten und Geschenken.

Eines Tages hatte sein Betragen dem armen Mädchen Thränen entpreßt; er selbst irrte unmuthig über sich im Freien umher, wie er gewöhnt war. wenn er Reue empfand. Er schlug den Weg durch das Thor nach dem Rosenthal ein. Da erblickte er zufällig eine junge Linde, in deren glatte Rinde er den Namen der Geliebten im vergangenen Herbst eingeschrieben hatte. Jetzt war es Frühling und der frische Saft quoll aus dem noch nicht verharschten Einschnitte hervor und benetzte gleichsam mit unschuldigen Pflanzenthränen den Namenszug seines Mädchens. Der stumme Vorwurf rührte sein Herz und seine Augen füllten sich mit Thränen. Eilig kehrte er zu ihr zurück, um ihr sein Unrecht doppelt und dreifach abzubittcn. Das gute Käthchen verzieh ihm und ein halb geraubter, halb gern gegebener Kuß besiegelte die Versöhnung.

Aber dergleichen ungestüme Ausbrüche wiederholten sich immer häufiger, besonders seitdem der Doctor Kanne, ein bescheidener und ehrenwerther Mann, die Weinstube besuchte und sichtlich sich um Käthchens Gunst bewarb, ohne jedoch von ihr aufgemuntert zu werden. Es kam zu wahrhaft erschütternden Auftritten, zu schrecklichen Scenen, in denen sich seine ganze leidenschaftliche Natur offenbarte. Mit unendlicher Geduld ertrug sie seine Laune, bis sie endlich, wenn auch mit blutendem Herzen, sich von ihm losriß.

Jetzt erst fühlte er, was er an ihr besessen und durch eigene Schuld verloren hatte. Um so heißer wurde seine Liebe, um so wilder seine Leidenschaft und er ließ kein Mittel unversucht, um sie wieder zu versöhnen. Bitten und Schwüre, Thränen und Versprechungen wurden nicht gespart, weinend sank er zu ihren Füßen und gelobte Besserung. Aber es war zu spät! Er hatte ihre Neigung verscherzt; das kluge Mädchen mochte wohl eingesehen haben, wie gefährlich die Liebe eines Dichters, wie wandelbar und jeder Berechnung spottend das Herz des Poeten sei. Sie selbst litt unaussprechlich, allein sie blieb fest und gegen alle seine neuen Versuchungen unerschütterlich. In seiner Verzweiflung stürzte sich Goethe in einen Strudel wilder Zerstreuungen, um seine Liebe zu vergessen. Dazu kam noch, daß seine mütterliche Freundin, die sanfte Professorin Böhme, nach langer, schmerzlicher Krankheit gestorben war, so daß er ihre warnende Stimme nicht mehr hören konnte. In wilder Gesellschaft brachte er seine Tage und Nächte zu, im Kreise ausgelassener Männer, unter denen „der wunderlichste aller Käuze“, sein neuer Freund Behrisch, der Hofmeister eines jungen Grafen, sich besonders hervorthat. Mit ihm wurden allerlei lustige Suiten unternommen, kecke Streiche ausgeführt, das Philisterthum verspottet, die Pedanterie der Professoren in lustigen Versen verhöhnt und ein gewisser Garten besucht, wo Goethe einige Mädchen kennen lernte, die jedoch besser als ihr Ruf waren. Trotzdem übte der Sonderling Behrisch mit seinem scharfen, negirenden Verstand und seinem originellen Wesen einen vortheilhaften Einfluß auf den jungen Dichter aus. Er hatte einen Widerwillen gegen alles Rohe, sein Späße waren barok, aber niemals trivial; auch besaß er, da er um Vieles älter war, eine seltene Menschenkenntniß, gediegene Kenntnisse und einen unerschöpflichen Humor, so daß er gleichsam der Vorläufer des ihm jedoch weit überlegenen Merck wurde, dem sich Goethe in seinem späteren Leben zu so großem Danke verpflichtet fühlte.

Vortheilhafter als dieser Umgang wirkte die Bekanntschaft mit der Familie des Buchhändlers Breitkopf, die sich durch Bildung und Talent auszeichnete, vor Allem aber Oeser’s, des Directors der unlängst gegründeten Zeichen- und Bauakademie, Unterricht, der ihm das Verständniß für Kunst eröffnete und das Ideal der Schönheit erschloß. Durch ihn wurde er mit den Verdiensten Winckelmann’s bekannt, lernte er Lessing’s unsterblichen „Laokoon“ erst würdigen, der wie „ein Lichtstrahl aus düsteren Wolken“ in seine Seele gefallen war. Er selbst versuchte sich in kleinen Zeichnungen und Radirungen, die ihn mit dem Kupferstecher Stock und dessen Familie in Berührung brachten, den späteren Freunden Schiller’s, so daß hier gleichsam ein prädestinirter Anknüpfungspunkt zwischen den beiden größten Geistern Deutschlands sich im Voraus bildete. Außer diesem Kreise ausgezeichneter Menschen lernte Goethe noch in Leipzig den Kreissteuereinnehmer Weiße kennen, den glücklichen Dichter beliebter Theaterstücke und Opern, den jungen Eschenburg, der sich durch sein Wissen unter den Studirenden vortheilhaft auszeichnete, ferner Zachariä, den humoristischen Dichter des „Renommisten“, welcher in Leipzig seinen Bruder besuchte und mit ihm bei Schönkopf speiste. Dagegen versäumte es Goethe, den durchreisenden Lessing zu sehen, weil er es in seinem stolzen Selbstgefühl verschmähte, von ferne zu stehen, und doch als unbekannter junger Mann keinen Anspruch machen konnte, dem berühmten und hochverehrten Schriftsteller näher zu treten.

Ein solcher Umgang und die davon empfangenen Eindrücke waren wohl geeignet, seine Leidenschaft zu läutern und zu klären. Er begann bereits in Leipzig dasjenige, was ihn erfreute und quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild oder Gedicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen. So entstand hier seine „Laune der Verliebten“, worin er seine eigene Liebe zu Käthchen, seine Eifersucht und alle der Geliebten zugefügten Qualen im Gewande der Dichtung erscheinen ließ. sich selbst anklagend und bereuend; so schuf er „die Mitschuldigen“, ein Gemälde der sittlichen Verirrungen jener Frankfurter Gesellschaft, in der er selbst gelebt. Auch zu der früheren Geliebten trat er in ein reineres Verhältniß, indem er mit der Zeit ihr Freund wurde. An die Stelle der wilden Leidenschaft war die aufrichtigste Achtung getreten, und ruhig schrieb er ihr aus Frankfurt, als er die Nachricht von ihrer Verlobung mit dem tüchtigen Kanne erhielt: „Nur im Traume erscheint mir manchmal mein Herz wie es ist, nur ein Traum vermag mir die süßen Bilder zurückzurufen, so zurückzurufen, daß meine Empfindung lebendig wird; ich habe es Ihnen schon gesagt, diesen Brief sind Sie einem Traume schuldig. Ich habe Sie gesehen, ich war bei Ihnen, wie es war, das ist zu sonderbar, als daß ich es erzählen möchte. Alles mit Einem Wort, Sie waren verheiratet. Sollte das wahr sein? Ich nahm Ihren lieben Brief und es stimmt mit der Zeit überein; wenn es wahr ist, o so möge das der Anfang Ihres Glückes sein!“

Zu dieser geistigen Krisis gesellte sich noch die körperliche, um mit der Zeit eine vollständige Genesung herbeizuführen. Der Schmerz auf der Brust, den er sich auf der Reise zugezogen, war durch einen Sturz vom Pferde noch vermehrt worden. Die verkehrte Anwendung des Rousseau’schen Naturevangeliums, kalte Bäder und ein hartes Lager mit leichter Decke, zogen ihm hartnäckige Erkältungen zu, während der häufige Genuß des schweren Merseburger Biers und des Kaffees nach Tisch sein Blut verdickte, sein Gehirn verdüsterte. Die Natur half sich selbst durch einen heftigen Blutsturz, sodaß er mehrere Tage zwischen Tod und Leben schwankte. Zugleich hatte sich eine Geschwulst am Halse gebildet, welche mit einem langwierigen Leiden drohte.

Sogleich eilten seine zahlreichen Freunde herbei, vor allen der treffliche Langer, nachheriger Bibliothekar in Wolfenbüttel, ein bedeutender Mann, der den vortheilhaftesten Einfluß auf den Leidenden ausübte, indem er ihn zugleich zu der Schönheit der alten Classiker und der Erhabenheit der Bibel hinleitete, ihn leiblich pflegend und geistig aufrichtend. Noch nicht vollständig genesen, nahm Goethe von Leipzig Abschied, um in das Vaterhaus zurückzukehren. Nicht wenig hatte er seinem bisherigen Aufenthalte zu danken; er hatte hier die bedeutendsten Anregungen für sein ferneres Leben empfangen, Natur und Kunst waren ihm näher getreten durch den Umgang mit der Ludwig’schen Tischgenossenschaft und Oeser’s Unterricht. Sein Geschmack wurde durch die mütterliche Freundin geläutert, seine Menschenkenntniß durch den wunderlichen Behrisch geweckt. Vornehmlich aber hatte er in Leipzig das deutsche Bürgerthum in seiner Tüchtigkeit kennen und achten gelernt, in Käthchen das schlichte, einfach, natürliche Bürgerkind geliebt, das er später in seinen schönsten Schöpfungen zu verherrlichen und zu verklären gesucht. Nicht den aristokratischen Kreisen seines nachfolgenden Lebens, sondern den bürgerlichen Elementen in ihrer inneren Gesundheit, den bedeutenden Männern und holden Frauen des gebildeten deutschen Mittelstandes hat Goethe das Beste zu verdanken, was er sich selbst und uns geleistet hat.

Max Ring.



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