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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

doch der Stürmischen genug, welche zu einem raschen entscheidenden Schritte drängten und öffentlich erklären wollten, sie hätten vor, eine altchristliche Gemeinde zu sein, und bedürften also keinen Pfarrer, dem sie den Zehnten geben müßten. Der Schneider, der Wagner und der Bader des Orts waren unter den Schreiern die lautesten, und das Begegnen des Fräuleins war den Meisten in der allgemeinen Erregung des Augenblicks ein willkommener Anlaß, dem verhaltenen Grolle Luft zu machen.

„Seht!“ rief der Wagner, da sie etwas beklommen sich an die Seite drängte, „da geht sie, die Hetzerin, die Unruhstifterin, der Geizteufel, der uns all den Verdruß und die Zwistigkeit macht.“

„Seht, sie will uns ausweichen!“ schrie der Schneider. „Seht, sie getraut sich nicht, uns in die Augen zu schau’n, das Tugendmuster hat ein schlechtes Gewissen! … Man sollt’ ihr einen Denkzettel geben …“

„Das soll man!“ schrie ein Dritter, dessen Weib auch zu den Zurückgewiesenen gehörte. „Ich hätte Lust, sie zu fragen, warum sie ehrliche Weiber schlecht machen will …“

Dem Fräulein entging die drohende Stimmung nicht; sie verlor ihre sonstige Zuversicht und fing an zu laufen, um auf einem Umwege zur Pfarre zu gelangen. Das war das Signal zur allgemeinen Verfolgung. Vergebens warnten und mahnten einige der Ruhigen; die Mehrzahl stürmte hinter der Fliehenden her und suchte sie zu erhaschen. „Ho!“ schrie es wüst durcheinander, „warum so eilig? Halt, Du Tugendspiegel, halt! Wir möchten Dich in der Näh’ anschau’n … Lauf nit so, Du sollst Deinen richtigen Denkzettel haben …“

Der Schrecken raubte dem Fräulein fast die Sinne; nicht wissend, was sie that, rannte sie, die tobende Schaar hinter sich, durch mehrere Gäßchen. sprang dann blindlings in das nächste offenstehende Gehöfte und stand vor dem eben von innen heraneilenden Isidor.

Sie vermochte keinen Laut hervorzubringen und drohte umzusinken; Isidor aber übersah mit einem Blicke die ganze Lage … „Hier hinein!“ flüsterte er und riß die Thür einer dunklen Kammer neben dem Backofen auf. „Bei mir sucht Sie Niemand …“

Dann trat er ruhig den Heranstürmenden entgegen.

„Dort hin!“ schrie der Schneider. „Dort ist sie hinüber!“

„Nein!“ rief der Wagner, „hier muß sie sein, ich hab’s deutlich gesehen, wie sie hier herein gewischt ist …“

„Du kannst Deine Augen auch verschenken, wann Du nur willst!“ lachte der Schneider entgegen. „So dumm ist sie nicht, daß sie in den Moosrainerhof geht, wenn sie sich verstecken will.“ Alles lachte und der Schneider fuhr fort, unter Entschuldigungen über die Störung den Vorfall zu erzählen. „Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Caplan,“ sagte er. „Sie geht es ja nicht an, Sie sind nicht gemeint damit – aber wir wollen eine altchristliche Gemeinde sein, wir wollen keine Geistlichen, keinen Pfarrer mehr haben – die Gnade kann über einen Jeden kommen!“

„Das kann sie!“ rief Isidor feierlich. „Möge sie Jedem von uns zu Theil werden – darum bitte ich, möge Jeder würdig werden, daß sie auf ihn herabsinkt … der Himmelsstrom verlangt nach einem Gefäß, rein und lauter wie Krystall! Das bedenkt, meine Freunde, und darnach handelt!“

Verlegen und betroffen schauten die Bauern zu Boden; die Hitze war merklich abgekühlt.

Isidor gab sich den Schein, als ob er es nicht bemerke; arglos fuhr er gegen den Schneider fort: „Ihr seid krank, Meister? Euer Gesicht ist verschwollen und Ihr tragt eine Binde um die Backe!“

„Ach leider Gottes,“ jammerte der Mann, „ich hab’ einen Fluß im Kopf und ein hohler Zahn macht mir Schmerzen, daß ich’s manchmal kaum aushalten kann …“

„Ihr dauert mich,“ war Isidor’s Antwort, „kommt zu mir herein – ich will Euch den Zahn ausziehen …“

„Na,“ rief der Schneider mit pfiffigem Lachen, „das thu ich nit! Wenn ich mich ja zum Ausreißen verstehe – gehe ich zu meinem Gevatter, dem Bader, da neben mir – der hat’s gelernt und muß es doch besser können …“

„Meint Ihr?“ erwiderte Isidor mit erhobener Stimme, den Blick fest in die Menge gerichtet. „In körperlichen Leiden, eines armseligen Zahnes wegen seid Ihr also so klug, daß Ihr um Hülfe nur zu dem Manne kommt, der es versteht, weil er die Heilmittel des Körpers gelernt … wo es Euer geistiges Wohl, die Gesundheit Eurer unsterblichen Seele gilt, seid Ihr minder bedenklich und wollt Euch selber helfen? wollt dem nächsten Besten vertrauen, der Euch sagt, er verstehe zu helfen? O meine Freunde …“

Die Bauern standen noch beschämter als zuvor und nahmen die Hüte ab, als ob sie in der Kirche vor der Kanzel versammelt wären.

Da ertönte von fern anhaltendes Rufen, Kathrin, die Magd, kam weinend und jammernd vom Thale hergelaufen. „Helft,“ rief sie schon von Weitem, „um Gotteswillen helft …“ und wie sie keuchend herankam und Isidor erblickte, knickte sie vor ihm mit dem Rufe zusammen: „Ach, das Unglück, hochwürdiger Herr! Ach, das arme, arme Leut!“

„Ein Unglück?“ riefen die Bauern durcheinander. „Wen meinst Du?“

„Ewiger Gott!“ rief Isidor und zog die Knieende empor, „errath’ ich, wen Du meinst? Wo ist Franzi … was ist mit ihr geschehen?“

„Ich weiß nit,“ stieß die noch immer Athemlose in Absätzen hervor, „aber es ist mir so ’was vorgegangen im Geist, drum hab’ ich sie nit aus den Augen gelassen, und wie sie fort ist aus der Schmieden, bin ich ihr nach, hinterm Dorf herum, am Moosrainerhof vorbei … hinunter gegen den Inn…“

„O, Du heilige Mutter!“ rief händeringend die Bäuerin, welche mit dem Alten aus dem Hause herbeikam; die Bauern standen entsetzt, Isidor dunkelte es vor den Augen.

„Rede,“ drängte er mit gepreßter Stimme, „rede weiter …“

„Ich flog ihr nach, wie der Wind,“ fuhr Kathrin fort, „ich hab’ geschrieen, aber sie hat nit gehört oder nit hören wollen, auf einmal ist sie mir hinterm Gebüsch verschwunden, und wie ich hin ’kommen bin, da ist nichts zu sehn gewesen, weit und breit, als der Schnee und das wilde Wasser… und daneben, am Gestad, da ist das Tüchel da gelegen und der Hut … O, Du armer, armer Wurm.“ fuhr sie, in Thränen ausbrechend, fort, „hat es ein solches End’ nehmen müssen mit Dir … Jetzt versteh’ ich Dich wohl … jetzt hast Du freilich den Leuten die Mäuler gestopft!“

„Ich verstehe,“ murmelte Isidor und schlang die Arme um den Nacken den Vaters, sich an dem starken Stamme fest zu halten im Sturm seiner Seele, „sie ist aus der Welt gegangen – um meinetwillen … für mich hat sie sich geopfert! Ich hatte recht geahnt, es war ihr Abschied für immer, als sie mir den Ring zuwarf und das Kränzlein.“

„Einen Ring?“ fragten neugierig die Umstehenden. „Was ist es mit dem?“

„Das einzige Andenken an ihre Mutter,“ sagte der alte Moosrainer, während die Leute das hingereichte Kleinod betrachteten. „Eine schöne alte Arbeit,“ sagte der Bader gewichtig, „inwendig stehn ein paar Buchstaben, die wie verkratzt aussehn … aber daneben sind drei Stern’ eingegraben…“

„Drei Stern’?“ fragte der Alte. „Die hab’ ich ja noch nie gesehn … Wahrhaftig! Drei Stern’ neben dem Namen …“

Aus der Backofenstube, dem Verstecke des Fräuleins, tönte ein Schrei, Niemand beachtete ihn, denn Isidor raffte sich aus seiner schmerzlichen Verlorenheit auf. „Fort!“ rief er, „wir verlieren die kostbare Zeit … vielleicht ist die Unglückliche noch zu retten!“

„Nein, nein!“ sagte Kathrin schluchzend, „damit ist’s vorbei … das Wasser ist viel zu wild und kalt … Die gute, gute Franzi hat’s überstanden … Gott geb’ ihr die ewige Ruh’ …“

Dennoch stürmte Alles Isidor nach, dem Strome zu; trauernd, trostlos kehrten sie nach einer Stunde zurück.

Als Isidor das Gehöft wieder betrat, gedachte er erst seiner Gefangenen und öffnete die Backstube.

Sie war leer – ein rückwärts in’s Freie führendes Fenster stand weit offen …

(Das Ende der Novelle s. Seite 782.)



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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_771.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)