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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

und es erschienen zwei Damen, die man ebenfalls augenblicklich als Mutter und Tochter zu erkennen vermochte. Sie waren Beide schlank, nicht zu groß und die Gesichtszüge von einer Feinheit, die an Schärfe grenzte. Die Tochter, Juliane, trat mit einer eigenthümlichen Gelassenheit auf und ließ alle Zeichen einer Denkerin an sich bemerken.

Man begrüßte sich. Richard sagte zu Juliane: „Wie haben Sie den Morgen verbracht, beste Cousine?“

Die Mutter, Geheimräthin von Sonnensels, erwiderte für die Tochter: „Wir haben einen Gang aufs Feld gemacht; dann hat Juliane gelesen!“

„Sie haben sich gewiß höchst nützlich beschäftigt, liebes Bäschen!“ sprach Frau von Hainsfeld. „Aber es ist doch schade, daß Sie nicht einige Minuten früher gekommen sind; Bernhardine hat eine Lobrede auf die Landwirthschaft gehalten, daß meinem Sohn und mir vor Vergnügen das Herz klopfte.“

Juliane konnte nicht umhin, die feinschmalen Lippen zu verziehen, als ob sie sagen wollte: das ist mir was Rechtes! Aber sie nahm schnell eine edlere Miene an und sagte: „Ich bedauere – es würde mir Freude gemacht haben! Ich habe mich aber,“ fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, „auf meinem Zimmer ebenfalls mit Landwirthschaft beschäftigt. Mich begeistern die Fortschritte, die sie gegenwärtig macht, die Aussichten, die ihr gestellt sind! Stimmen Sie mir nicht bei, lieber Vetter, daß durch ihre Verbindung mit der Naturwissenschaft für die Landwirthschaft ein neuer Tag anbricht?“

„Ich hoffe sehr viel davon.“

„Es ist erstaunlich,“ fuhr Juliane fort, „was der menschliche Geist in unsern Tagen leistet! Er beherrscht die Natur, indem er die Bedingungen ihres Lebens ergründet; er klärt und vervollständigt die Erfahrung, indem er ihre Errungenschaften mit den Errungenschaften der Wissenschaft vermehrt!“

Während einer kurzen Pause, die hierauf eintrat, bemerkte die Baronin: „Das ist mir doch ein wenig zu allgemein gesagt! Könnten Sie’s uns nicht an einem Beispiel anschaulich machen?“

„Mit großem Vergnügen,“ erwiderte Juliane. Und indem sie sich angenehm in Positur setzte, fuhr sie fort: „Jeder weiß und von jeher hat man gewußt, daß die sorgfältige Bebauung den Acker fruchtbar macht. Warum? Das war die Frage. Auf diese hat nun die Wissenschaft antworten gelernt. Weil dadurch der Boden aufgeschlossen und die Aufnahme feiner Bestandtheile in den Organismus vorbereitet wird. Nun fragt die Wissenschaft aber, ob es nicht noch andere Mittel giebt, welche dieses bewirken; und sie findet, daß dem Boden denselben Dienst auch der gebrannte Kalk leistet. Sie empfiehlt also diesen den Oekonomen; und wenn man ihn auch früher schon angewendet hat, so kann man es doch jetzt erst rationell, mit wahrer wissenschaftlicher Einsicht thun. Auch den Dünger – ich brauche nur an Knochenmehl und künstlichen Guano zu erinnern – hat die Wissenschaft gemehrt; und sicherlich wird man auch noch jene andern Stoffe, die man bisher ihrem Schicksal überlassen hat, zum Gedeihen und Flor der Felder gewissenhaft nutzen lernen. Der Forschergeist ruht niemals, und vor Nichts schrickt er zurück! Wie herrlich ist nun der Gedanke, alle Ergebnisse der Forschung durch Studien sich anzueignen und sie verwerthen zu können zu immer größerer Vervollkommnung des menschlichen Daseins! Ich für meine Person kenne keinen größern Genuß, als den Weg, den die Wissenschaft nimmt, zu verfolgen und ihn theilnehmend nachzugehen.“

Bernhardine konnte die Ungeduld, die sie empfand, nicht mehr zurückhalten. „Das ist aber doch eigentlich kein Geschäft für Frauen!“ rief sie. „Die Männer mögen die Natur zergliedern und die Begriffe spalten, das ist ihre Sache, aber für Frauen ist es denn doch zu abstract!“

„Abstract!“ entgegnete Juliane mit geringschätzigem Lächeln. „Nimm mir’s nicht übel, meine liebe Bernhardine; aber wer heutzutag nichts lernen will, der pflegt Alles, was einige Anstrengung erfordert, abstract zu nennen.“

Bernhardine richtete sich zu ihrer ganzen Höhe auf und warf ihr den Blick einer Verletzten zu.

„Was heißt abstrahiren?“ fuhr Juliane fort. „Denken! Und sollen wir Frauen nicht denken? Haben wir keinen Verstand? Können wir uns von der gemeinen Erfahrung nicht erheben zu Begriffen? Ich sollt’ es doch wohl meinen! Auch unser Kopf ist organisirt zur Wissenschaft. Wir können sie verstehen, wir können Theil nehmen an ihr. Es ist nichts nöthig als guter Wille und Ausdauer!“

„Es ist ganz erstaunlich,“ rief Bernhardine spottend, „wie Dir das auf einmal gekommen ist! Vor einem Jahr noch hat Dir nicht geträumt von solchen Dingen!“

„Alles muß einmal anfangen,“ entgegnete Juliane nach flüchtigem Erröthen. „Ich habe meine Einsichten zu erweitern gestrebt und gefunden, daß man ohne Kenntniß der Naturwissenschaft keinen Boden unter sich hat, worauf man sicher in seiner Bildung vorwärts gehen könnte. Ich habe getrachtet, mir vor allem diesen Boden zu gewinnen.“

„Ja wohl,“ sagte Bernhardine zu sich selber, „Grund und Boden willst Du gewinnen – und den Eigenthümer dazu!“

„Geist ist Macht,“ fuhr die Denkerin mit Bedeutung fort. „Die Stoffe sind dazu geschaffen, vom Geist regiert, verschönt und ausgebeutet zu werden; und sollte das weibliche Geschlecht sich selber von der Herrschaft darüber ausschließen? Wenn wir die Männer vorangehen lassen in der Wissenschaft, so ist das genug. Die Herren der Schöpfung erschließen unwegsame Pfade und brechen neue Bahnen, aber wir dürfen dabei nicht in Unthätigkeit verharren und haben uns jedenfalls an den Früchten zu betheiligen. Wenn wir uns das, was die Männer hervorgebracht, erforscht, aufgedeckt haben, nicht wenigstens aneignen, dann sind wir keine Frauen, die ihnen gleichstehen, sondern Dienerinnen, die unter ihnen stehen.“

„Es scheint fast,“ bemerkte die Rivalin, „als hätten Deine naturwissenschaftlichen Studien den Zweck gehabt, Dich zur würdigen Gemahlin eines Physikers oder Chemikers auszubilden!“

„Mich hat der reine Wissenstrieb geleitet,“ entgegnete Juliane mit Würde. „Die Erkenntniß trägt den Lohn in sich selber; sie bereichert den Geist und erhebt die Seele!“

„Gewiß,“ versetzte der junge Baron, der den Ausfall der Andern nicht hatte billigen können.

„Und sie lehrt uns,“ fuhr Juliane dadurch ermuthigt fort, „die Wirklichkeit und das Leben selber lieben und edler genießen. Ich bin immer gern auf dem Lande gewesen und die Oekonomie hat mir stets lebhaftes Interesse abgewonnen. Aber seitdem ich die Werke der großen Forscher gelesen, welche den Scharfsinn ihres Geistes und die Fülle ihrer Kenntnisse der Landwirthschaft zugewendet haben, seh’ ich die Thätigkeit des Oekonomen mit unvergleichlich größerer Befriedigung. Es ist schön, über Felder und Wiesen und Wälder und über Viehherden nach bloßer Anschauung poetisch zu schwärmen; aber es ist schöner, zugleich die Ursachen und Bedingungen des Wachsthums zu begreifen und sich an Blüthen und Früchten mit klarer Einsicht in das Wesen der hervorbringenden Kräfte zu erfreuen. Die Landwirthschaft ist gleichsam die Probe für die Richtigkeit der Untersuchung. Die Voraussetzungen, welche der Forscher zergliedert hat, treten in der Cultur zusammen und erzeugen ein Leben, das unser Herz erquickt. Der Gedanke verkörpert sich in ihr; die Wahrheit wird Schönheit, und das Häßlichste sogar muß zur Hervorbringung des Lieblichsten dienen!“

„Bravo!“ rief Richard, den diese Wendung wohlthuend berührt hatte.

Juliane, vor Vergnügen erröthend und ordentlich zu weiblicher Anmuth verschönt, bemerkte hierauf: „Ich hoffe, man wird mir vergeben, wenn ich mich einigermaßen auch um die Seite der Landwirthschaft bekümmert habe, welche von Andern trocken und langweilig gefunden wird. Ich glaube, daß sie es nicht ist und daß jene Unrecht haben.“

Ruhig und gemessen, mit dem schönen Selbstgefühl eines erreichten Zieles, trat sie zu ihrer Mutter, welche die Siegerin mit einem Blick der Liebe und der Hoffnung beglänzte.

Der Landwirth schien sich zu besinnen. Mit Artigkeit wendete er sich dann zu Juliane und sagte: „Ihre Geständnisse, liebe Cousine, ermuthigen mich, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Sie haben die Maschinen gesehen, die gestern eingetroffen sind?“

„O freilich,“ rief Juliane. „Aber allerdings –“

„Wenn Sie’s interessirt,“ fuhr jener fort, „werde ich sie morgen Vormittag erklären und arbeiten lassen!“

„Das ist ja herrlich!“ rief die Glückliche.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_787.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)