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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Weihnachten hinter Eisengittern.
Ein Erlebniß.

Der Gefängnißbeamte hat nur wenig freie Zeit. Der regelmäßige Dienst beginnt Morgens fünf Uhr und endigt erst Abends acht Uhr. In diesem Zeitraume ist er seiner Familie und seinem Hauswesen gänzlich entzogen und im Dienste selbst mit einer Unmasse von Verdrießlichkeiten und Verantwortungen behelligt. Die Verdrießlichkeiten werden durch die Unfügsamkeit der Gefangenen, die Verantwortungen durch die äußerst strengen Dienst-Instructionen geschaffen. Der Gefängnißbeamte kann auch bei der gewissenhaftesten Pflichterfüllung, bei der allergrößten Strenge im Dienste Ordnungswidrigkeiten seitens der Gefangenen nicht immer verhindern, und dennoch werden diese den Gefangenen nur selten allein zur Last gelegt; in der Regel treffen damit Verweise an den Beamten zusammen.

Der Dienst geht indeß häufig auch noch über die gedachte Zeit hinaus. Ich meine damit nicht die regelmäßig wiederkehrenden Nachtwachen, an welche der Beamte sich schon gewöhnt, ich meine die Einlieferungen von Gefangenen, welche außerhalb der Dienststunden erfolgen. Für gewöhnliche Gefangene werden daher auch alle Tage eine oder mehrere Zellen in Bereitschaft gehalten; werden dagegen – was allerdings seltener ist – Gefangene eingeliefert, welche von vornherein mit den übrigen Gefangenen nicht gleichgestellt werden sollen, so macht dies stets eine Menge Vorbereitungen und die Thätigkeit mehr als eines Beamten nothwendig. Es läßt sich denken, daß einem solchen Gefangenen bei seinem Eintritt in die Anstalt nicht besonders freundliche Gesichter entgegentreten, daß er verdrießlich und mürrisch empfangen und unfreundlich untergebracht wird.

Am Abend vor Weihnachten 185* hatte ich meine Dienstgeschäfte etwas früher als gewöhnlich beendigt. Es war ein halb acht Uhr, ich wollte auf einige Stunden vergessen, daß ich Gefängniß-Inspector war, ich wollte Familienvater sein und heiligen Christ spielen. Die wenigen Gaben, welche ich von meinen Ersparnissen für Weib und Kinder hatte beschaffen können, waren bereits auf den Weihnachtstisch gelegt und die Lichter an dem Christbaume angezündet, ich war eben im Begriff, die Kinder eintreten zu lassen, als die Hausglocke in rascher Folge zwei Mal gezogen wurde. Ohne daß ich nachsah, wußte ich, daß der Untersuchungsrichter vor der Thür war, denn er meldete sich stets in gleicher Weise an; ich wußte aber auch, daß er nicht allein kam, denn er hatte zu dieser ungewöhnlichen Zeit in dem Gefangenenhause nichts zu schaffen. Was sollte ich thun? Sollte ich meine Kinder, oder sollte ich den Untersuchungsrichter warten lassen? Die Kinder waren unruhig, sie hatten ja schon so lange die Weihnachtsfreude ersehnt und mit Ungeduld die Stunden bis zur Christbescheerung gezählt, aber auch der Untersuchungsrichter war unruhig, er zog wiederholt und stärker als das erste Mal an der Glocke. Meine Unentschlossenheit war bald zu Ende, ich durfte nicht Vater, ich mußte Beamter sein, meiner Frau das Einführen der Kinder überlassen und auf die Theilnahme an deren Weihnachtsfreude vielleicht für die Dauer des ganzen Abends verzichten.

Als ich die Thür des Gefangenenhauses unmuthig geöffnet hatte, hörte ich den Untersuchungsrichter draußen sagen: „Treten Sie ein, gnädige Frau.“ Diese Worte machten mich noch mürrischer, denn ich berechnete in aller Geschwindigkeit, daß die Unterbringung einer „gnädigen Frau“ mich mehrere Stunden ausschließlich beschäftigen werde. Ich war zurückgetreten, um den Eingang frei zu lassen. Allein es trat Niemand ein, der Raum innerhalb der geöffneten Thür blieb leer. Um die Ursachen der Zögerung kennen zu lernen, näherte ich mich der Oeffnung und sah durch diese in das Freie hinaus. Ich erkannte den Untersuchungsrichter und bemerkte auch die Gestalt einer Frau, welche an der äußeren Seite der Thür lehnte und den Kopf mit beiden Händen gestützt hatte. Die Frau war ganz still, ich hörte keinen Laut, ich konnte keine Bewegung wahrnehmen.

Der Untersuchungsrichter wartete einige Minuten. Dann erfaßte er die eine Hand der regungslosen Gestalt, zog diese sanft nach sich und sagte dabei: „Ich bitte, gnädige Frau, folgen Sie mir, treten Sie in das Haus, wir dürfen hier nicht länger verweilen.“

Bei der Berührung ihrer Hand zuckte die Frau zusammen, sie richtete auch den Kopf hoch, blieb aber immer noch ruhig. Eine Secunde später wendete sie sich rasch der Thür zu. Ich sah ganz deutlich, daß sie den einen Fuß hochhob, um diesen auf die Schwelle zu setzen, daß der Fuß jedoch einige Augenblicke in der gehobenen Stellung verblieb, ehe er die Schwelle berührte, und daß dann der andere Fuß hastig nachgezogen wurde. Es ist ein schwerer Schritt über die Schwelle eines Gefangenenhauses, der folgenreichste, den ein Mensch im Leben thun kann; warum sollte diese Frau da nicht zögern?

Während ich die Thür schloß, blieb die Frau neben dem Untersuchungsrichter ruhig auf dem nur matterleuchteten Flur stehen. Bei dem Eintreten in das Haus hatte ich von derselben, außer dem Fuße, nur die Kleidung, sonst nichts gesehen, da das Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt war. Ich wußte nicht, ob sie jung oder alt, schön oder häßlich, und ob mir dieselbe im Leben schon ein Mal begegnet war. Auch jetzt, als ich an ihr vorbeischrilt und die Gestalt mit einem neugierigen Blicke betrachtete, vermochte ich die Einhüllung nicht zu durchdringen.

Ich hatte beinahe mein Arbeitszimmer erreicht, als der Untersuchungsrichter mir zurief: „Herr Inspector, können wir nicht in Ihr Wohnzimmer eintreten?“

„Nein,“ versetzte ich kurz und unfreundlich, „das gehört heute, am Abend vor Weihnachten, meiner Familie.“

Diese hart gesprochenen Worte wurden durch ein lautes und heftiges Schluchzen unterbrochen. Ich blickte zurück. Die Frau war stehen geblieben, sie hielt beide Hände vor das Gesicht und weinte. Das Weinen allein würde ich vielleicht unbeachtet gelassen haben, das kam mir ja alle Tage vor; aber die Haltung der Frau zeigte einen so tief empfundenen Schmerz, ein so unendlich bitteres Leid, daß ich mich unwillkürlich ergriffen fühlte und die harten Worte bereute. Um diese zu mildern, fügte ich hinzu: „Herr Rath, in meiner Wohnstube brennt der Weihnachtsbaum, den Kindern ist soeben bescheert worden; ich möchte dieselben nicht gern in ihrer Freude stören, ich möchte aber auch der Dame nicht gern – “

„Nein, nein,“ fiel diese mir mit Heftigkeit in’s Wort, „nicht dahin, wo Kinder sich aufhalten; ich will allein sein, ganz allein.“

Die Stimme war frisch, sie war, obgleich bewegt, ich möchte sagen zitternd, doch glockenrein. Die Gefangene konnte nicht alt sein. Aber weshalb wollte sie nicht mit Kindern zusammentreffen?

Und gerade an diesem Abend nicht? War sie Mutter und aus dem Kreise ihrer Familie herausgerissen? Dann allerdings war sie tief zu beklagen, dann mußte der Anblick fremder Kinder ihren Kummer vermehren; die eigenen Kinder, die sie vielleicht hülflos verlassen hatte, mußten ihr ja vor Augen treten. Aber wenn sie auch nicht Mutter sein sollte, sie war dennoch bedauernswerth, weil sie gerade an dem Tage, an welchem entfernt und zerstreut wohnende Familienglieder sich zusammenfinden, um durch ihre Vereinigung die Festfreude zu erhöhen, die Freiheit verloren hatte. Ich nahm mir vor, nicht mehr unfreundlich zu sein, sondern der Gefangenen so viel, als ich durfte, Erleichterung zu bereiten.

In meinem Arbeitszimmer veranlaßte der Untersuchungsrichter die Frau zum Niedersitzen. Diese kam auch der Aufforderung sofort nach, aber mir schien es, als ob sie dies in halber Bewußtlosigkeit thue. Sie setzte sich eigentlich nicht, der Körper fiel mehr auf ein altes, hartgepolstertes Sopha nieder, er hatte offenbar keine Festigkeit, keinen Halt, er fiel, als er den Ruhepunkt erreicht hatte, in sich zusammen. Auch die geistigen Kräfte mußten erlahmt sein. Denn der Untersuchungsrichter erhielt auf die verschiedenartigsten Fragen, die er von Zeit zu Zeit an sie richtete, keine Antwort. Böser Wille war das auf keinen Fall, der Frau fehlte allem Anscheine nach das Verständniß und die Fassungskraft.

Die vergeblichen Versuche versetzten den Untersuchungsrichter in Verlegenheit. Nachdem er das Zimmer mindestens zehn Mal durchschritten hatte, blieb er vor mir stehen.

„Was fangen wir an?“ fragte er leise.

„Gönnen Sie der Frau noch einige Zeit,“ erwiderte ich in derselben Weise bittend, „sie scheint zu sehr angegriffen zu sein.“

„Ja, ja, ich weiß das; es kann ja nicht anders sein. Das Unglück ist zu groß, der Schlag ist ganz unverhofft gekommen,“ versetzte er weich.

„Wir können ja noch einige Zeit warten.“

„Ich möchte aber gern nach Hause, ich wollte schon um sechs Uhr zurück sein, Frau und Kinder warten.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_808.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2022)