Seite:Die Gartenlaube (1866) 003.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

es sei wirklich, als habe hier die geheimnißvolle Macht irgend einer gütigen Fee obgewaltet.

Sie hielten in corpore das kleine Weltwunder über die Taufe, stritten sich dabei, welche wohl die meiste Zärtlichkeit für das Pathchen hege, und schwuren, dieser Tag werde ihnen unvergeßlich bleiben – ohne Zweifel eine zu hohe und voreilige Anforderung an ihr Erinnerungsvermögen, denn als Ferbers in mißliche Verhältnisse geriethen, da wischte der Egoismus mit hartem Finger über die Denkschrift und siehe da, es blieb keine Spur zurück, daß sie je gewesen.

Diese alte Erfahrung, welche die kleine Elisabeth schon in ihrem neunten Lebensjahre machen mußte, beunruhigte sie übrigens sehr wenig. Die vermeintliche Fee hatte ihr zu den anderen reichen Gaben auch einen unzerstörbaren Frohsinn und sehr viel Willenskraft in die Wiege gelegt; deshalb nahm sie fortan das dürftige Vesperbrod ebenso dankbar und fröhlich aus der mütterlichen Hand, wie ehemals die unerschöpflichen Leckerbissen der zärtlichen Pathen, und als am Weihnachtsabend ein lichterarmer Baum nur einige Aepfel und vergoldete Nüsse bot, da schien ihr gar nicht einzufallen, daß sich früher stets eine ehrenwerthe, stattliche Gesellschaft aller möglichen guten und wünschenswerthen Dinge auf seinen Zweigen eingefunden hatte.

Ferber unterrichtete seine Tochter selbst. Nie hatte sie eine Schule oder ein Institut besucht, ein Mangel, den man leider heut zu Tage in vielen Fällen einen Vorzug nennen möchte, wenn man bedenkt, daß manche junge Mädchen bei weitem erfahrener die Schule verlassen, als der sorgsamen Mutter lieb sein dürfte, die daheim die Reinheit der jungen Seele streng gehütet und nicht ahnt, daß sie durch die täglich sich mehrenden räudigen Schafe im Schulzimmer Eindrücke empfängt, deren nachtheilige Folgen sich in allen Phasen des späteren Lebens geltend machen.

Elisabeth’s bildsamer Geist entfaltete sich herrlich unter der Leitung der selbst so reich begabten Eltern. Sie trieb die ihr auferlegten Studien mit tiefem Ernst und dem rastlosen Drang, Alles, was sie in sich aufnahm, gründlich zu wissen, damit es ein unveräußerliches, lückenloses Eigenthum ihrer Seele bleibe; das war ihr strenge Gewissenssache und gehörte in das Reich der Pflichten. Der Musik aber gab sie sich mit einer Inbrunst hin, mit welcher der menschliche Geist das umfaßt, was er als seine specielle Sendung auf der Welt erkennt. Bald hatte sie ihre Mutter, die ihre Lehrerin war, weit überflügelt, und wie sie als kleines Kind ihr Spielwinkelchen verließ, wenn sie Wolken auf des Vaters Stirn bemerkte, sich auf seinen Schooß setzte und ihm selbsterfundene goldglänzende Märchen erzählte, so beschwichtigte sie später mit wundervollen Melodieen, die wie klare Perlen in ihrer Seele aufstiegen und die vorher noch nie ein menschliches Ohr berührt hatten, den Dämon finsteren Grames, der oft Ferber’s Gemüth umnachtete. Aber nicht allein dieser Segen erwuchs aus dem seltenen Talent des jungen Mädchens. Das ausgezeichnete Clavierspiel in der Mansarde hatte die Aufmerksamkeit einiger Hausbewohner erregt. Elisabeth bekam auf diese Weise nach und nach mehrere Schülerinnen und später den Clavierunterricht in einem Institut übertragen, wodurch es ihr möglich wurde, die Nahrungssorgen der Eltern bedeutend zu mildern.

Hier nehmen wir den Gang der Erzählung wieder auf und wollen uns die Mühe nicht verdrießen lassen, dem jungen Mädchen zu folgen, das an dem stürmischen Winterabend der elterlichen Wohnung zueilte.


2.

Während des endlosen Weges durch krumme und gerade, dunkle und helle Straßen genoß Elisabeth schon im Geiste das Behagen, das sie beim Eintritt in das heimische Stübchen stets überkam. Da saß, von der kleinen Schirmlampe mild beleuchtet, der Vater am Schreibtisch, lächelnd das blasse Gesicht erhebend, wenn er Elisabeth’s Schritt hörte. Er nahm die Feder, die den ganzen Nachmittag unermüdlich über das Papier geflogen war, in die linke Hand und zog mit der rechten seine heimkehrende Tochter zu sich nieder, um einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken. Die Mutter, die, den Nähkorb zu ihren Füßen, gewöhnlich neben ihm saß, um den schwachen Lampenschimmer möglichst nahe zu haben, begrüßte sie mit einem zärtlichen Lächeln und zeigte auf Elisabeth’s Hausschuhe, welche sie vorsorglich in das warme Zimmer getragen hatte. Auf der heißen Ofenplatte zischten einige Aepfel und drüben in der dunklen, behaglichen Ecke neben dem Ofen summte die kleine Theemaschine auf dem Sophatisch, welche nebenbei mit ihrer schwachen, blauen Flamme eine ganze Compagnie Bleisoldaten zu beleuchten hatte, die der sechsjährige Ernst, Elisabeth’s einziges Brüderlein exerciren ließ.

Vier Stockwerke mußte Elisabeth ersteigen, ehe sie den schmalen, dunklen Corridor erreichte, der zu der elterlichen Wohnung führte. Hier nahm sie eiligst den Hut ab, zog eine neue, mit Pelz verbrämte Knabenmütze unter dem Mantel hervor und drückte sie auf ihr blondes Haar. So trat sie in das Zimmer, wo der kleine Ernst alsbald mit einem Freudenschrei auf sie zulief.

Heute aber war die dunkle Ecke am Ofen hell beleuchtet und der Schreibtisch stand verlassen im Dunkel, der Vater saß auf dem Sopha und hielt die Mutter umschlungen; auf den Gesichtern Beider aber lag ein eigenthümlicher Glanz, und wenn auch die Mutter verweint aussah, so erkannte Elisabeth doch auf den ersten Blick, daß die Thränen aus Freude geflossen waren. Erstaunt blieb sie an der Thür stehen und mochte mit diesem Gesichtsausdruck unter der schief aufgedrückten Mütze wohl sehr komisch aussehen, denn beide Eltern lachten laut. Elisabeth stimmte fröhlich ein in das Gelächter und setzte die Pelzkappe auf den dunklen Lockenkopf des kleinen Bruders.

„Da, Herzensjunge,“ sagte sie, indem sie zärtlich sein blühendes Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände nahm und küßte, „die gehört Dir. Und auch dem Mütterchen bringe ich Etwas mit in die Wirthschaft,“ fuhr sie glückselig lächelnd fort und legte der Mutter vier blanke Thaler in die Hand, „ich habe heute meine ersten fünf Thaler Honorar im Institut erhalten.“

„Aber Elsbeth,“ sagte die Mutter mit feuchtem Auge, indem sie das Töchterlein zu sich niederzog, „Ernst’s vorjährige Wintermütze sieht noch ganz anständig aus, und Du hättest viel nöthiger ein Paar warme Handschuhe gebraucht.“

„Ich, Mutter? Fühle doch meine Hände an, ich komme eben von der Straße und sie sind so warm, als hätten sie im Ofen gesteckt … nein, das wäre geradezu Luxus. Unser Junge ist größer und stärker geworden, die Mütze aber nicht, drum war diese Ausgabe im Augenblick die nöthigste.“

„Ach, Du liebe, gute Elsbeth!“ rief entzückt der Kleine, „eine so schöne Mütze hat ja nicht einmal der kleine Baronsjunge unten im ersten Stock! … Die wird aufgesetzt, wenn ich auf die Jagd gehe, gelt, Papa?“

„Auf die Jagd?“ lachte Elisabeth, „Du willst wohl auf die unglücklichen Spatzen im Thiergarten schießen?“

„Falsch gerathen, Jungfer Else!“ jubelte der Kleine. „Ja, im Thiergarten,“ fügte er ernsthaft hinzu, „da würde ich schön ankommen … nein, im Wald, im wirklichen Wald, wo es von Hirschen und Hasen wimmelt, so daß man gar nicht erst zu zielen braucht, wenn man einen schießen will.“

„Nun, ich bin sehr neugierig, was der Onkel zu dieser Ansicht vom edlen Waidwerk meint,“ sagte lächelnd der Vater, dann nahm er einen Brief vom Tisch und gab ihn dem jungen Mädchen.

„Lies dies Schreiben, mein Kind,“ sagte er, „es ist vom Försteronkel, wie Du ihn nennst, aus Thüringen.“

Elisabeth überflog die ersten Zeilen, dann aber las sie laut:

… „Der Fürst, dem ein Teller Sauerkraut mit Rauchfleisch bei mir besser zu schmecken scheint, als die Pasteten seines französischen Kochs im Schlosse zu L., blieb vorgestern mehrere Stunden bei mir im Forsthause. Er war sehr leutselig und sagte mir, er wolle mir noch eine Art Forstschreiber beigeben, denn er sähe ein, daß zu viel auf meinen Schultern läge. Da nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe, das Wild stand schußrecht und wenn es entwischte, so riskirte ich höchstens ein paar Rehposten in’s Blaue hinein, was ich mir freilich sonst nicht passiren lasse.

Ich erzählte ihm also, daß Dich das Schicksal seit einer Reihe von Jahren verteufelt auf’s Korn genommen habe und Dich zwänge, bei Deinen schönen Kenntnissen und Talenten am Hungertuche zu nagen.“ Der alte Herr wußte gleich, wo ich hinaus wollte, denn ich sprach gut Deutsch wie immer, und bis jetzt hat mich auch noch Keiner falsch verstanden, – es müßten denn die vornehmen Bisambüchsen und Katzenbuckel sein, die um den Herrn scharwenzeln und ihm am liebsten weismachen möchten, das ehrliche Deutsch sei zu grob für fürstliche Ohren und man könne nur auf französische Art mit ihm reden … Nun, der alte Herr meinte also, er sei geneigt, Dich als Forstschreiber anzustellen, weil er mich – nun,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)