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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Auf der Chaussee, die durch einen reizenden Thalgrund des Thüringer Waldes führt, rollte in einer bepackten Postchaise die Familie Ferber ihrer neuen Heimath zu. Es war früh am Morgen, eben verkündete das dünne, scharfe Stimmchen einer kleinen Thurmglocke in der Nähe die dritte Stunde. Deshalb hatten auch nur der alte, verdrießliche Wegweiser an der Chaussee und ein Rudel stattlicher Hirsche, das am Saum des Waldes erschien, den köstlichen Anblick eines jungen, glückselig lächelnden Menschenangesichts.

Elisabeth hatte sich weit aus dem dumpfen Wagen gebogen und sog mit tiefen Athemzügen die kräftige Waldluft ein, die, wie sie behauptete, auf der Stelle Lungen und Augen von dem Staub der verlassenen Hauptstadt reingewaschen habe. Ferber saß ihr sinnend gegenüber. Auch er erquickte sich an der Lieblichkeit und Anmuth der Gegend; noch mehr aber bewegten ihn die leuchtenden Augen seines Kindes, das den Zauber einer schönen Natur so tief empfand und das so unaussprechlich dankbar war für die neue Gestaltung der Verhältnisse … Wie hatte sie fleißig die kleinen Hände gerührt, als endlich das heißersehnte Ernennungsdecret des Fürsten von L. erschienen war! Da gab es tüchtig zu schaffen. Alle Umzugssorgen der Eltern hatte sie treulich mit auf ihre Schultern genommen. Der Fürst hatte zwar dem neuen Diener ein anständiges Reisegeld bewilligt und auch vom Försteronkel war eine Geldbeisteuer eingelaufen, allein das wollte trotz der ängstlichsten Berechnung bei weitem nicht reichen, und, deshalb beutete Elisabeth auch noch die wenigen Tagesstunden, die für ihre Erholung bestimmt waren, insofern aus, als sie Arbeiten für ein Weißwaarengeschäft übernahm; ja manche Nacht, während die Eltern arglos schon daneben im Alcoven schliefen, durchwachte sie bei der Nadel.

In all dies rege Streben und Schaffen war nur ein einziger bitterer Tropfen gefallen, der dem jungen Mädchen aber auch einige schwere Thränen entlockte; das war, als zwei Männer kamen und ihr liebes Clavier auf die Schultern luden, um es dem neuen Besitzer zu bringen. Es hatte für wenige Thaler verkauft werden müssen, weil es alt und gebrechlich war und voraussichtlich einen so weiten Transport nicht mehr aushalten konnte. Ach, das war ja immer ein so guter, alter Freund der Familie gewesen! Sein dünnes, zitterndes Stimmchen hatte Elisabeth so traut und lieb geklungen, wie die Stimme der Mutter! … Und nun fuhren vielleicht muthwillige Kinderhände gefühllos über die ehrwürdigen Tasten und quälten das alte Instrument, die schwache Stimme zu verstärken, bis es für immer schwieg. … Doch der Schmerz war jetzt auch überwunden und lag hinter ihr wie so Manches, was sie schweigend entbehrt und geleistet hatte, und wie sie so dasaß, mit den fröhlich glänzenden Augen in die Morgendämmerung hineinblickend, als steige vor ihr aus dem grauen Schleier eine Prophezeiung voll künftigen Glückes, wer hätte da an der jugendlichen Gestalt voll Lebensfrische und Elasticität auch nur eine Spur der mühevollen letzten Wochen, entdecken können?

Noch ungefähr eine halbe Stunde fuhren die Reisenden die glatte, ebene Chaussee entlang, dann bogen sie seitwärts ab in den dunkeln Wald durch den ein gutgehaltener Fahrweg lief. Die Sonne zeigte sich bereits in voller Pracht am Himmel und blickte verwundert lächelnd auf die Erde, die ohne Vorwissen ihrer hohen, leuchtenden Protectorin sich über Nacht einen prächtigen Brillantschmuck angeschafft hatte. Nach Mitternacht war ein starkes Gewitter über die Gegend gezogen; es hatte viel geregnet, noch hingen schwere Tropfen an Bäumen und Gesträuchen und fielen rauschend auf das Wagenverdeck, wenn der Postillon mit der Peitsche einen niederhängenden Ast berührte … Welch’ ein prächtiger Wald! Aus dichtem Unterholz stiegen die mächtigen Baumkolosse himmelan und verschlangen droben brüderlich ihre breiten, vollen Aeste, als gälte es, Licht und Luft wie zwei tödtliche Feinde von der stillen verschwiegenen Heimath abzuwehren. Nur manchmal schmuggelte sich ein feiner grüngefärbter Sonnenstrahl von Ast zu Ast hinab auf die gefiederten Gräser und die kleinen Erdbeerblüthen, die massenhaft, wie hingestreute Schneeflocken, den Boden bedeckten und ihre weißen Köpfchen vorwitzig an die Landstraße legten.

Nach kurzer Fahrt lichteten sich die Bäume, und bald darauf zeigte sich das mitten auf einer Waldwiese gelegene alte Jagdhaus. Der Postillon stieß in sein Horn; zugleich erhob sich wüthendes Hundegekläff und eine große Schaar Tauben verließ erschrocken und unter lautem Geräusch den gezackten Giebel des Hauses.

In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform, eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte, der fast bis auf die Brust reichte. Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem kommenden Wagen; dann aber sprang er mit einem lauten Ausruf die Stufen herab, riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust. … Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und, ihn an den Schultern haltend, die ganze schmale, blasse Gestalt prüfend musterte.

„Armer Adolph!“ sagte er endlich, und die tiefe Stimme klang bewegt. „So hat Dich das Schicksal zugerichtet? Na, warte nur, Du sollst mir hier gesund werden, wie ein Fisch im Wasser … noch ist Alles wieder gut zu machen. … Sei mir tausendmal willkommen! Und nun wollen wir auch zusammenhalten, bis das große Hallali geblasen wird, wo wir freilich nicht gefragt werden, ob wir beieinander bleiben wollen oder nicht.“

Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner, Schwägerin und dem kleinen Ernst, den er herzte und küßte, aus dem Wagen.

„Nun,“ sprach er, „Ihr seid früh. aufgebrochen, das muß ich sagen – passirt sonst nicht, wenn Weibsleute dabei sind.“

„Was denkst Du denn von uns, Onkel?“ rief Elisabeth. „Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut, wie die Sonne aussieht, wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht.“

„Heisa!“ rief überrascht und laut lachend der Oberförster, „was raisonnirt denn da hinten in der Wagenecke? … Na, komm heraus, kleine Krabbe!“

„Ich klein? … Nun, Onkelchen, Du wirst Dich schön wundern, wenn ich erst aussteige, was für ein großes Mädchen ich bin!“ Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich, alle Glieder möglichst streckend, auf die Zehen neben ihn. Allein, obgleich ihre schlanke, leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt, so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus, als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen.

„Siehst Du,“ sagte sie ein wenig kleinlaut, „ich reiche doch beinahe bis an Deine Schulter und das ist für ein respectables Mädchen mehr als genug.“

Der Onkel sah, sich kerzengerade haltend, mit schalkhaftem Blick und vergnügt in sich hineinlachend, einen Augenblick seitwärts auf sie nieder; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der Anderen auf einem Arm in das Haus, wo er mit wahrer Donnerstimme schrie:

„Sabine, Sabine, komm hierher, ich will Dir zeigen, wie in B. die Zaunkönige aussehen!“

Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder, nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände, küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief: „Solch’ ein Liliput, solch’ eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein, wie ihr großer Onkel … Kleine Waldhexe, Du kannst freilich wissen, wie die Sonne aussieht, hast ja selbst den Kopf voll Sonnenstrahlen!“

Dem jungen Mädchen war in Folge des Sturmschrittes, den der Onkel bei der Entführung angenommen, der Hut vom Kopfe gefallen, wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde, dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte, als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren.

Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten, und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter, die jedoch schnell wieder verschwanden, als der Oberförster hinaufblickte. „Na, lauft nur nicht davon, gesehen habe ich Euch nun schon einmal!“ rief er lachend. „Es sind meine Burschen,“ wendete er sich zu seinem Bruder, „die Kerls sind neugierig wie die Spatzen; nun, heute mag ich’s ihnen gerade nicht verdenken!“ meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblick auf Elisabeth, die abgewendet ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang. Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich komischer Weise folgendermaßen vor:

„Jungfer Sabina Holzin, Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses, hohe Polizei für Alles, was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut, und endlich unumschränkte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_018.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2018)