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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

war über Nacht zur trüben Wolke geworden, deren Druck noch im Augenblick des Erwachens auf ihr lastete… Sie war in Todesangst durch die wüsten, weiten Säle des alten Schlosses gelaufen, immer verfolgt von Jost, dem sich die Haare auf der todtblassen Stirn aufbäumten und der sie mit den schwarzen Augen anglühte, und hatte eben unter tiefem, nie empfundenem Grauen die Hände ausgestreckt, um ihn zurückzustoßen, als sie erwachte. … Noch klopfte ihr das Herz, und sie dachte mit Schauder an jene Unglückliche auf der Mauer, die vielleicht, ebenso gehetzt wie sie, verzweiflungsvoll den Tod suchte und in dem fürchterlichen Augenblick von dem Verfolger ergriffen wurde.

Sie sprang auf und kühlte sich das Gesicht in frischem Wasser; dann öffnete sie das Fenster und sah hinunter in den Hof. Dort saß Sabine unter einem Birnbaum, mit dem Butterfaß beschäftigt. Das ganze Hühnervolk hatte sich um sie geschaart und sah erwartungsvoll zu ihr empor, denn von dem großen Butterbrod, das neben ihr auf dem Steintisch lag, warf sie dann und wann einige Brocken auf den Boden, wobei sie nicht unterließ, die Unverschämten zu schelten und die Unterdrückten zu trösten.

Als sie das junge Mädchen erblickte, nickte sie freundlich und rief hinauf, Alles, was im Forsthaus Hände und Füße habe, arbeite seit sechs Uhr droben im alten Schlosse. Auf Elisabeth’s Vorwurf, weshalb man sie nicht geweckt, entgegnete sie, das sei auf den Wunsch der Mama geschehen, weil ihr Töchterlein sich in den letzten Wochen weit über seine Kräfte angestrengt habe.

Sabinens gutes, friedvolles Gesicht und die frische Morgenluft beruhigten Elisabeth’s Nerven augenblicklich und führten die Gedanken des jungen Mädchens in die Wirklichkeit zurück, die sich ja gerade jetzt so hell und rosig gestaltete… Sie gab sich unsägliche Mühe, sich selbst auszuschelten, daß sie, der väterlichen Ermahnung des Onkels entgegen, gestern bis um Mitternacht am Fenster gelehnt und über die mondbeglänzte Wiese in den schweigenden Wald hinausgesehen hatte. Allein der angeregten Phantasie gegenüber spielt der Verstand oft eine klägliche Rolle. Mitten in der Untersuchung verschwinden plötzlich Ankläger und Zeugen, er sieht sich allein auf seinem Richterstuhl und muß es sich sogar gefallen lassen, daß er hinter die Coulissen gesteckt wird, während um und neben ihm die Spectakelstücke der Phantasie von vorn anheben. Deshalb verstummten Elisabeth’s ärgerliche Betrachtungen auch sehr bald vor dem Bilde, das sich in einem Nu vor ihrem inneren Auge aufrollte und sie noch einmal den ganzen Zauber einer Mondnacht im Walde nachempfinden ließ.

Nachdem sie sich angekleidet und rasch ein Glas frische Milch getrunken hatte, eilte sie den Berg hinauf. Der Himmel war bedeckt, aber nur mit jener hellen, hohen Wolkenschicht, die zwar keinen goldenen, aber einen desto frischeren Frühlingstag verheißt. Deswegen dauerte auch heute das Morgenconcert der Vögel etwas länger und die Thautropfen schaukelten sich noch so voll in den Blumenkelchen, als sei ihr zartes Dasein für heute unantastbar.

Als Elisabeth in das weit offene Hauptthor des Schlosses trat, fiel ihr sogleich ein ungeheurer, grüner Hügel neben dem Brunnen in’s Auge. Es waren Distelbüsche, Farrenkrautbündel und Brombeerranken, die, ihrem alten, trauten Wohnplatz, dem Garten entrissen, hier ihr lustiges Leben verhauchen mußten. Der Weg durch den gewölbten Thorbogen des zweiten Hofes bis zur Gitterthür war mit verzetteltem Grünzeug bestreut, als sollte ein fröhlicher Hochzeitszug durch die Ruinen wandeln, und sogar an den Sims eines hohen Fensters, das droben in feinem Spitzbogen eine prächtige, durchbrochene Steinrosette mit Resten bunter Glasmalerei zeigte, hatten sich im Vorübertragen einige Ranken gehängt und legten ihr lebendiges Grün traulich neben die steinernen Kleeblätter der heiligen Dreifaltigkeit, die nicht verkennen ließen, daß der dunkle, wüste Raum da drinnen einst die Schloßcapelle gewesen war.

Der Garten, in welchem man gestern nicht zwei Schritte weit vordringen konnte, erschien dem jungen Mädchen völlig verwandelt. Ein beträchtliches Stück lag aufgedeckt und zeigte nun die Reste zierlicher Anlagen. Elisabeth konnte auf einem ziemlich gesäuberten Hauptweg, über den erschreckte Eidechsen blitzschnell huschten, bis nach dem grünen Damme gelangen, den man gestern von der Ferne aus entdeckt hatte. Zu beiden Seiten des langen, berasten Erdaufwurfes führten breite, ausgewaschene Steintreppen in die Höhe bis zu einer niedrigen Brüstung, über die man in den Wald und da, wo die Bäume ein wenig auseinander traten, hinunter in das Thal sehen konnte, wo das Forsthaus mit seinem blauen Schieferdach voll weißer Tauben behaglich auf der grünen Wiese lag. Zu Füßen des Walles, gerade da, wo der Hauptweg endete, befand sich ein kleines Bassin, in das eine grünbemooste Gnomengestalt einen starken, krystallhellen Wasserstrahl spie. Zwei Linden wölbten sich über dem rauschenden Brunnen und warfen ihren wohlthätigen Schatten auf die zarten Vergißmeinnicht, die hier massenhaft aus der feuchten Erde sproßten und das Bassin in dunkler Bläue umfingen.

Dem Damm gegenüber lag der Zwischenbau; er sah mit seinen zurückgeschlagenen Fensterläden und der großen offenen Thür im Erdgeschoß heute so hell und gastlich aus, daß sich Elisabeth freudig dem süßen Gefühl hingab, hier auf heimischem Boden zu stehen. Sie überblickte den Garten und dachte an ihre Kinderjahre, an jene Momente voll unbezwingbarer Sehnsucht, wo sie beim Spaziergang hinter den Eltern zurückblieb und, ihr Gesicht an das festgeschlossene Gitter gepreßt, in fremde Gärten hineinsah. Dort tummelten sich glückliche Kinder ungezwungen auf den Rasenplätzen; sie durften die aufgeblühten Rosen am Stock in ihre kleinen Hände nehmen und sich an dem Duft erquicken, so lange sie wollten… Und was mußte das für eine Lust sein, den kleinen Körper unter einen vollen Strauch zu ducken und gerade so im Grünen zu sitzen, wie die großen Leute in einer Laube! Damals blieb es bei Wunsch und Sehnsucht. Nie öffnete sich eine der geschlossenen Thüren vor dem Kind mit den bittenden Augen, und es wäre doch schon zufrieden gewesen, wenn man durch das Gitter einige Blumen in seine kleinen Hände gelegt hätte!

Während Elisabeth auf dem Wall stand, erschien der Oberförster an einem der oberen Fenster des Zwischenbaues. Als er das junge Mädchen erblickte, wie es, die zarte Gestalt an die Brüstung gelehnt und den schönen Kopf halb nach dem Garten gewendet, sinnend vor sich hinsah, da überflog ein unverkennbarer Ausdruck von Wohlgefallen und stiller Freude sein Gesicht.

Auch Else wurde den Onkel gewahr, nickte lustig ihm zu und lief schnell die Stufen hinab nach dem Hause. Da sprang ihr der kleine Ernst aus der großen Halle entgegen, und lachend fing sie ihn in ihren Armen auf.

Seiner enthusiastischen Beschreibung nach hatte der Kleine schon Unglaubliches geleistet. Er hatte dem Maurer, der den Heerd einrichtete, Backsteine zugetragen, war von Mama beim Ausklopfen der Betten beschäftigt worden und meinte mit großem Stolz, die Herren und Damen auf der wollenen Tapete sähen viel schöner und freundlicher aus, seit er mit der Bürste über ihre staubigen Gesichter gefahren sei. Er schlang entzückt die Arme um den Hals der Schwester, die ihn die Treppe hinauftrug, und hörte nicht auf, zu versichern, daß er es hier oben doch tausendmal schöner finde, als in B.

Der Oberförster empfing Elisabeth droben im Vorsaal. Er ließ ihr kaum Zeit, die Eltern zu begrüßen, und führte sie, ohne ein Wort zu sagen, in das Zimmer mit den Gobelins. … Welche Veränderung! … Das grüne Bollwerk vor dem Fenster war verschwunden, draußen, jenseits der äußeren Mauer, trat der Wald auf beiden Seiten coulissenartig zurück und gewährte einen vollen Einblick in ein weites Thal, das Elisabeth wahrhaft paradiesisch erschien.

„Das ist Lindhof,“ sagte der Oberförster und zeigte auf ein ungeheures Gebäude im italienischen Geschmack, das sich ziemlich nahe an den Fuß des Berges drängte, auf welchem Gnadeck lag. „Ich habe Dir hier etwas mitgebracht, das Dir sofort jeden Baum drüben auf den Bergen und jeden Grashalm drunten auf den Wiesen vorführen wird,“ fuhr er fort, indem er dem jungen Mädchen ein gutes Perspectiv vor die Augen hielt.

Da rückten die gewaltigen, ernsten Bergkuppen herüber, deren granitne Gipfel hie und da den Wald zerrissen und auf ihrer äußersten Spitze eine einsame Tanne gen Himmel streckten. Hinter diesen nächsten Bergen thürmten sich zahllose bewaldete Rücken im blauen Dämmerlichte, und aus einem fernen dunklen Thale, das nur wie ein tiefer Einschnitt zwei Bergriesen voneinander trennte, tauchten zwei schlanke, gothische Thürme bleich und nebelhaft empor. Ein kleiner Fluß, eine von Pappeln eingefaßte Chaussee und mehrere schmucke Dörfer belebten den Hintergrund des Thales; vorn lag das Schloß Lindhof, umgeben von einem im grossartigsten Style angelegten Park. Unter den Fenstern des Schlosses breitete sich ein weiter, kurzgeschorener Rasenplatz aus,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_036.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)