Seite:Die Gartenlaube (1866) 083.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der ihm, wie er versicherte, seit vielen Jahren nicht zu Theil geworden sei, und sprach dann eingehend über Schubert’s herrliche Tonschöpfung, wobei er ein feines Urtheil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verrieth.

Plötzlich wurde mit hartem Anschlag ein voller Accord auf dem Flügel gegriffen. Erschrocken drehten sich die Plaudernden um. Der Candidat saß am Clavier mit hochgehobenem Kopf und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweiten schrillen Accord auf die Tasten fallen, dazu begann er mit näselnder Stimme die Melodie des grausam mißhandelten Chorals zu singen. Das war zu viel. Der Doctor griff nach seinem Hut und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin. Die Letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung.

Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doctors. Er drückte Elisabeth’s Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung beiden Uebrigen.

Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene, die sich still in einer Sophaecke niedergelassen hatte.

„Unerträglich!“ rief sie, und ihre scharfe Stimme klang gedämpft, als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre, während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete, das fast schüchtern und beklommen den Blick zu ihr erhob. „Und Du duldest es so widerstandslos, Helene,“ fuhr sie fort, „daß man in Deinen Zimmern unsere Standesvorrechte, unsere Frauenwürde, ja, das Heiligste, was wir treulich behüten und pflegen, mit Füßen tritt?“

„Aber, liebe Amalie, ich sehe nicht ein –“

„Du willst nicht einsehen, Kind, in Deiner unerschöpflichen Geduld und Langmuth, daß dieser Doctor mich beleidigt, wo er kann. Nun, ich muß mir das gefallen lassen, weil es nicht in meinem Hause geschieht und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide, als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte… Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende, sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird. Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden… Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich, daß dieser Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusch das Zimmer verläßt, während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik, durch den Choral, tief bewegt sind?“

„Ach, das mußt Du dem Doctor nicht so übel nehmen,“ sagte Fräulein von Walde. „Er ist an seine Zeit gebunden, hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen, ehe wir zu spielen anfingen.“

„Indeß der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen,“ unterbrach sie die Baronin höhnisch. „Nun, ich bescheide mich… Es liegt leider in unserer traurigen Zeit, daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden.“

„Aber, mein Gott, Amalie, was willst Du denn, daß ich thun soll? Du weißt ja nur zu gut, daß Fels mir unentbehrlich ist … er ist der erste und einzige Arzt, der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht!“ rief Helene und ihr Auge schimmerte feucht, während die Röthe der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg.

„Ich dächte, mein Fräulein,“ begann hier Frau von Lehr, die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte, langsam und feierlich, „vor Allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden, die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie. … Im Uebrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen, die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doctor Fels aufnehmen können… Glauben Sie mir, liebes Fräulein, es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich, wenn sie sehen müssen, wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Rathgeber in Ihrem Hause aus- und eingehen darf.“

„Wenn ich auch das Opfer bringen wollte, einen anderen Arzt zu nehmen,“ entgegnete Helene, „so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun. Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolph hält sehr viel auf den Doctor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen.“

“Ja, Gott sei’s geklagt!“ rief die Baronin. „Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolph’s Charakter, die ich nie habe begreifen können! … Mit diesem sogenannten Freimuth, den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte, imponirt ihm der Herr Fels… Nun, ich wasche meine Hände, werde mir aber für künftig die Besuche des Herrn Doctor verbitten und halte mich bei Dir, liebe Helene, für die Zeit stets entschuldigt, wenn Du ihn bei Dir siehst.“

Fräulein von Walde erwiderte kein Wort. Sie erhob sich, während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt, als vermisse sie etwas; es schien Elisabeth, als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld, der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte.

Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung, und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruch. Beide sagten dem Candidaten, der seinen Vortrag geendet hatte und nun verlegen seine Hände reibend am Flügel stand, noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene, die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte.

Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden, nur schwach beleuchteten Corridor stehen. Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Wort in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt. Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen; denn sie hatte lebhaft gewünscht, er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich ernstes Wort ein Ende machen. Noch mehr aber mißfiel es ihr, als sie bemerken mußte, daß er, über das Buch hinweg, sie unausgesetzt fixire. Möglich war es schon, daß er in ihren Zügen den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte, aber sie meinte, dafür habe er sie nun lange genug angestarrt. Sie fühlte, daß sie endlich unter seinem Blick tief erröthete, und ärgerte sich darüber um so mehr, als dies ihm gegenüber, ganz gegen ihren Willen, schon einige Mal der Fall gewesen war. Ein eigenthümlicher Zufall wollte nämlich, daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete, sei es nun im Corridor, auf der Treppe, oder daß er plötzlich hinter einem Bosket hervortrat. Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte, wußte sie selbst nicht. Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen, ehe sie noch daheim war.

Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gang. Ein schwarzer, tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht, und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht. Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat, sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte, rasch auf sie zu, als ob er ihr etwas sagen wolle.

In dem Augenblick erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe. „Ei, Herr von Hollfeld,“ rief die alte Dame hinab, „wollen Sie denn noch eine Promenade machen?“

Die Züge des jungen Mannes, die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren, nahmen sofort einen gleichgültigen, ruhigen Ausdruck an.

„Ich komme aus dem Garten,“ sagte er in eigenthümlich nachlässigem Ton, „wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe. Bringe Fräulein Ferber nach Hause,“ gebot er dann dem Hausknecht, der eben zu diesem Zweck mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat, und schritt, nach einer Verbeugung gegen die Damen in den Corridor zurück.

Als Elisabeth eine Stunde später, am Bett der Mutter sitzend, ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse abstattete, gedachte sie schließlich noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur, woran sie die Bemerkung knüpfte, daß sie sich doch gar nicht denken könne, was er eigentlich von ihr gewollt habe.

„Nun, darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen,“ sagte Frau Ferber. „Sollte es ihm jedoch einmal einfallen, Dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen, so weise sie unter allen Umständen zurück. Hörst Du, Elisabeth?“

„Aber, liebe Mama, was denkst Du denn?“ rief lachend das junge Mädchen. „Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten, als ein solches Anerbieten … Hat er ja Frau und Fräulein von Lehr, die sich jedenfalls zu den sehr vornehmen Leuten zählen, allein nach Hause gehen lassen, da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_083.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)