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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Wink jeden Anspruch, meist noch drüber hinaus, zu befriedigen wissen. Aber solcher Massenhaftigkeit und Mannigfaltigkeit gegenüber gilt es sich zu beschränken. Deshalb nur einige Blicke auf diesen und jenen besonders originellen Wagen. Wo sieht man noch solche kleine, gemüthliche, zweiräderige Stuhl-Pony-Wagen, wie in London? Und solche schlaue, verzogene, launische, jedes Wort verstehende Ponies davor, wie sie Dickens in seinem „Raritäten-Laden“ auf ewige Zeiten gezeichnet und verherrlicht hat? Der Stuhl auf den zwei oder ganz niedrig zwischen vier Rädern ist wie so ein echter Großvaterstuhl und recht bequem für den einen dicken, ältlichen Herrn darin, nimmt aber auch zur Noth noch die Frau mit auf, damit Beide, von ihrer weiten, hübschen Villa draußen her, in der Stadt einkaufen, die Schätze in einem gut und versteckt angebrachten Kasten hinten und unterhalb verwahren und so versorgt und versehen dem Pony zureden können, daß er nun so gut sein möchte heimwärts zu trippeln und sich unterwegs nicht zu viele Läden und Merkwürdigkeiten anzusehen. Ich habe mich immer gewundert, wie diese Spielwaarenkinderwagen zwischen den riesigen Kohlenwagen, den massiven Pickfords und Chaplins unzerschmettert hindurchkommen, aber sie kommen alle Tage massenweise unzermalmt hindurch und heil nach Hause.

Auch die hinter den Pferden auf zwei Rädern (sehr großen) angebrachten Sättel, Flugmaschinen für forsche, junge, reiche Taugenichtse und Bonvivants, die eben so schnell fortkommen wollen, wie ein Reiter, aber ohne zu reiten, sehen zwischen den Wagen-Gebilden gar lustig aus. Oft sind sie etwas größer und zwei-, nicht selten auch viersitzig, aber der Kürze wegen so gebaut, daß die andern Beiden den Vorderen den Rücken kehren. Das sind aristokratische Lust- und Spazierkasten mit den beiden Rücksitzen für Kutscher und Diener, die blos vor und nach der Fahrt verlangt werden, weil der Herr oder die Lady selbst die edle Rosselenkerkunst ausüben. Man sieht, beiläufig bemerkt, nur in England neben Schaaren reitender große Mengen fahrender Damen, kühn mit Zügeln und Peitsche in der Hand, nicht selten ganz allein.

Diese originellen, viersitzigen, zweiräderigen Fahrkasten werden in der Regel nur zu lustigen Ausflügen benutzt. Die ganze Construction sieht heiter, lächerlich, übermüthig aus. Kommt es nun vor, daß ein Paar Tieftrauernde umflort mit ihren umflorten Dienerschaften von dem letzten Ehrengeleit, das sie einem geliebten Dahingeschiedenen, wenn nicht bis auf den Kirchhof, so doch bis zur Eisenbahn gaben, auf einem solchen lustigen Karren vor Bier- und Schnapspalästen (Spirit stores) und großen Schiffsrümpfen an Gestaden oder Ufern vorbei nach Hause zurückkehren, so giebt das ein Lebens- und Verkehrsbild, das wohl der Aufzeichnung werth ist, da es einen so tragischen Humor, eine so herzergreifende Fülle von Gegensätzen in sich schließt, wie im alltäglichen Leben oft, in London eben alle Tage vorkommen, ohne weiter beachtet zu werden, da sich Leben und Tod, Lust und Lasten, Schmerz und Wonne, furchtbare Unglücksfälle zu Wasser und zu Lande und massenhafte Züge zu Genuß und Luxus zu Fuß, Pferd und Wagen so dicht nebeneinander vorbeidrängen oder ineinander mischen, wie kaum in den Tragödien Shakespeare’s. Diese Narren in den Tragödien, die Witze der Todtengräber mit ausgegrabenen Schädeln sind oft von Gelehrten in kleinen, ruhigen Städten für unwahr, unnatürlich gehalten worden, aber in London kann man alle Tage die Lebenswahrheit derselben bestätigt, sehr oft durch die handgreiflichste, unmittelbarste Wirklichkeit übertroffen sehen.

H. Beta.     




Der rechte Capitän.[1]


 1.
Ein Schiff, neu, stark und festgebaut,
Will fort auf’s Meer – und froh und laut
Ertönt vom Capitän der Gruß:
 „Nun glückliche Fahrt!

5
 Nun Muth bewahrt!“

Und Hunderte geben den Abschiedskuß.

Die Fahrtgenossen steigen ein;
Es muß ja doch geschieden sein. –
„Lebt wohl! lebt wohl!“ schallt’s hundertfach

10
Und nochmals, – nun Kanonenkrach,

Hier „Hurrah!“ und dort klagend „Ach!


 2.
Wenig Tage ziehn vorüber, wenig Nächte friedlich nah’n,
Und die Sterne zünden schweigend sich am Winterhimmel an,
Da mit Eins – und aus den Wellen, die bis jetzt so leis und lind,

15
Wölbet Woge sich um Woge und zum Sturme wird der Wind.


„Fürchtet nichts!“ So trösten muthig Steuermann und Capitän,
„Stürme kommen, Stürme gehen, mein Schiff wird den Sturm bestehn!“
Und die Fahrtgenossen alle hören gern auf dieses Wort, –
Doch die Wogen schlagen höher und der Sturm braust heulend fort.


 3.

20
O Capitän, o Steuermann!

Wo ist das Schiff,
Das Wog’ und Riff,
Das den Sturm bestehn und ihm trotzen kann?
Das Wort – es trog,

25
Denn bergehoch

Hebt sich das Meer,
Stürzt als schnaubender Riese daher,
Ohne Gnad’, ohn’ Erbarmen
Packt er mit gigantischen Armen

30
Das kämpfende Schiff an Fleisch und Knochen,

Giebt Stoß auf Stoß
Und läßt es nicht los
Und würgt auf und nieder,
Bis er des Schiffes Leib und Glieder

35
Verrenkt und zerbrochen; –

Die Wogen donnern, schäumen und kochen.

Schon bersten die Planken, –
Die Rettungssterne jetzt sinken – – sie sanken, –
Zweihundert Menschen erwarten mit Grau’n

40
Das Wort des Capitäns, auf den sie schau’n.



 4.
Da tritt der Capitän hervor und spricht:
„An euch erfüll’ ich die traurige Pflicht
Und bringe die Kunde: bald naht das Verderben,

Das Schiff muß sinken, – wir müssen sterben,

45
Es läßt sich keine Hülfe erspäh’n!

Hilft nicht der rechte Capitän!
Wer sich vertraut dem schwankenden Boot:
Vielleicht, vielleicht entrinnt er dem Tod; –
Ich aber bleibe, ich halte aus,

50
Ich sterb’ als Capitän in meinem Haus!“


Und lautlos hören sie’s Alle an,
Nur Wenige wählen den leichten Kahn;
Das Schiff, auf dem muthig der Führer steht,
Das Schiff, selbst wenn es untergeht,

55
Es war ja das Haus, das zuletzt sie barg,

Drum wählen sie es schweigend zum Sarg.

Und wenige bange Minuten nur –
Da versinkt das Schiff – – nun keine Spur
Von Capitän und Passagier,

60
Hinab in’s grausige Revier

Des wilden Meeres tauchten sie;
Tief ist das Grab – man schmückt es nie.


 5.
So schlafet wohl da unten,
Ihr Fahrtgenossen, nun,

65
Der Capitän mag friedlich

In eurer Mitte ruh’n!

Schmückt keine Hand der Menschen
Den Sarg und das feuchte Grab,
So streut doch lichte Blumen

70
Der Himmel auf euch herab.


Es sind die ewigen Sterne,
Die leuchten auf Meer und Land,
Die leuchten auf Wieg’ und Särge,
Wo immer der Mensch sie fand.

75
Schlaft wohl! wir senden Grüße

In Liebe noch euch zu,
Bis unser Lebensschifflein
Einst findet den Hafen der Ruh’!


Wir steuern noch durch Stürme,

80
Es fällt noch Thräne auf Thrän’ –

Doch hoch über Sternen und Sonnen
Lebt ja der Capitän!

Auch euer Schiff hat er geführet, –
Wir wollen den Curs nicht schmähn,

85
Am Compaß stand der rechte,

Der ewige Capitän!

 Ludwig Würkert.


  1. Aus einem Vortrage, den Ludwig Würkert im Hotel de Saxe zu Leipzig zum Gedächtniß der durch Schiffbruch des Dampfers „London“ am 11. Januar 1866 Verunglückten gehalten hat.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_111.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)