Seite:Die Gartenlaube (1866) 113.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 8.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Elisabeth schritt durch das Dorf nach Lindhof zu ihren gewöhnlichen Musikübungen, die trotz der Ankunft des Herrn Walde nicht abgesagt worden waren. Mit der Rückkehr des Besitzers hatte das Schloß eine ganz andere Physiognomie angenommen. Sämmtliche Fenster im Erdgeschoß an der Südseite, die so lange verschwiegen und geheimnißvoll hinter den weißen Läden gesteckt hatten, spiegelten ihre lange glänzende Reihe im Sonnenlicht. In den Räumen selbst wurde gewaltig gelärmt und hantirt, gesäubert und gelüftet. Eine Glasthür, die das Innere eines großen Saales zeigte, stand weit offen; auf einer der Stufen, die hinunter nach dem Garten führten, lag ein schneeweißes Windspiel; den schlanken Leib unbeweglich hingestreckt auf den sonnenbeschienenen, heißen Stein und die Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt, blinzelte es Elisabeth an, als sei sie eine alte Bekannte. An einem offenen Fenster ordnete der Gärtner einen Blumentisch, und der alte Hausverwalter Lorenz schritt eben mit dem Blick eines Untersuchungsrichters durch das Zimmer.

Es war auffallend, daß sämmtliche Menschen, die dem jungen Mädchen im Hause begegneten, wie durch einen Zauberschlag einen völlig anderen Gesichtsausdruck angenommen hatten. War ein Sturmwind durch die schwüle Atmosphäre gebraust und hatte einen neuen Odem in die Räume gehaucht, so daß die Stimmen heller klangen und die gedrückten Menschengestalten sich erfrischt und elastisch aufrichteten? … Selbst der alte Lorenz, dessen Gesichtsmuskeln stets so schlaff und grämlich herabhingen, als ob sie Bleigewichten nachgeben müßten, hatte heute einen wahren Sonnenschein in den Augen, obgleich er einen Augenblick auf die Staubausklopfer erbost war; auch klang seine Stimme so laut, daß Elisabeth überrascht aufsah, denn sie kannte den alten Mann ja nur, wie er geräuschlos, auf den Zehen in das Zimmer der Damen trat und lächelnd, mit möglichst unterdrückter Stimme, seine Meldungen machte.

Erstaunt über dies urplötzlich aufgeblühte neue Leben und Treiben wandte sich Elisabeth nach dem Flügel, den die Damen bewohnten. Hier herrschte jedoch die tiefste Stille. In der Wohnung der Baronin hingen sämmtliche Rouleaux dicht und schwer hinter den Scheiben. Kein Laut drang durch die Thüren, an denen Elisabeth vorbei mußte. Die Luft des schmalen Corridors war mit dem durchdringenden Geruch starker Baldriantropfen gemischt, und als endlich am untersten Ende des Ganges eine Thür geöffnet wurde, erblickte Elisabeth wohl ein menschliches Haupt, aber in welcher Verfassung! Es war die alte Kammerjungfer der Baronin, die vermuthlich sehen wollte, wer so vermessen sei, die feierliche Ruhe des Corridors zu unterbrechen. Die Haube saß schief auf den falschen Locken, von denen das eine Paket bedenkliche Anstalten machte, herunterzufallen. Die Gesichtszüge sahen verstört aus und zwei cirkelrunde, feuerrothe Flecken auf den hervorstehenden Backenknochen zeugten entweder von Fieberhitze oder einer großen, geistigen Erregung. Sie erwiderte Elisabeth’s Gruß kurz und mürrisch und verschwand schnell wieder hinter der leise zugemachten Thür.

Als Elisabeth Fräulein von Walde’s Zimmer betrat – auf ihr mehrmaliges Klopfen war kein „Herein“ erfolgt – da meinte sie, hier spiele der letzte Act des geheimnißvollen Dramas, das in den Räumen der Baronin begonnen hatte. Nicht allein die Rouleaux, sondern auch die dicken, seidenen Vorhänge waren dicht zugezogen. Die tiefe Dunkelheit und Stille hielten sie ab, einzutreten, und eben wollte sie die Thür wieder schließen, als Helene mit schwacher Stimme sie hereinrief. Die junge Dame lag in einem Fauteuil im Hintergrund des Zimmers; sie hatte den Kopf in ein weißes Kissen gedrückt und Elisabeth konnte hören, wie ihr leise die Zähne zusammenschlugen.

„Ach, liebes Kind,“ sagte sie und legte ihre feuchtkalten Hände auf den Arm des jungen Mädchens, „ich habe Nervenzufälle gehabt. Niemand von meiner Umgebung hat es gemerkt, daß ich so unwohl hier liege, und da war ich so fürchterlich allein in dem finsteren Zimmer … Bitte, öffnen Sie die Fenster weit – ich brauche Luft, warme Gottesluft.“

Elisabeth erfüllte sogleich ihren Wunsch, und als das Tageslicht auf das blasse Gesicht der Kranken fiel, sah das junge Mädchen, daß sie heftig geweint hatte.

Die eindringenden Sonnenstrahlen erweckten mehr Leben und Bewegung in dem Zimmer, als Elisabeth geahnt hatte; sie schrak heftig zusammen, als es plötzlich in einer Ecke laut aufkreischte. Dort wiegte sich ein Kakadu mit schneeweißem Gefieder und emporgesträubter gelber Krone auf einem Ring.

„Gott, wie fürchterlich!“ seufzte Helene und drückte die schmalen Hände an beide Ohren. „Das abscheuliche Thier zerreißt mir noch die Nerven.“

Elisabeth’s Blick haftete erstaunt auf dem kleinen Fremdling und glitt dann durch das Zimmer, das aussah wie ein Bazar. Auf allen Tischen und Stühlen lagen reiche Stoffe, Shawls, kostbar gebundene Bücher und die verschiedenartigsten Toilettengegenstände. Fräulein von Walde fing Elisabeth’s Blick auf und sagte kurz, mit abgewandtem Gesicht: „Lauter Geschenke meines Bruders, der gestern unerwartet zurückgekehrt ist.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_113.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)