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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

enge Grenzen gesteckt waren, indem der Gutsherr sich selbst die Oberaufsicht vorbehielt. Einige Taglöhner, die man eigenmächtig verabschiedet hatte, weil sie dem Ortsgeistlichen anhingen und der Bibelstunde im Schlosse einige Mal untreu geworden waren der dringenden Arbeit wegen, oder auch, weil sie vom Candidaten Möhring das Wort Gottes nicht hören wollten, arbeiteten wieder nach wie vor auf dem Gute. Gestern, als am Sonntage, hatte Herr von Walde in Begleitung der Baronin Lessen und der kleinen Bella dem Gottesdienst in der Dorfkirche zu Lindhof beigewohnt. Herr Candidat Möhring war zum Erstaunen der Gemeinde als Zuhörer neben der Orgel erschienen – und Mittags hatte der würdige Dorfpfarrer im Herrschaftshause gespeist. … Doctor Fels kam jeden Tag nach Lindhof; denn Fräulein von Walde war krank. Das war jedenfalls der Grund, weshalb Elisabeth bisher keine Aufforderung erhalten hatte, wieder zur Stunde zu kommen, und auch die Ursache, meinte der Oberförster, daß die Baronin Lessen der ‚Verbannung nach Sibirien‘ entgangen sei; „denn,“ sagte er, „Herr von Walde wird kein solcher Barbar sein, die kranke Schwester noch kränker zu machen, indem er ihr den liebsten Umgang raubt, und wenn das auch nicht gerade die Baronin ist, so hören doch mit ihrer Entfernung selbstverständlich auch die öfteren und langen Besuche ihres Sohnes auf.“ Das war boshaft, „aber unumstößlich richtig calculirt,“ wie er hinzufügte.

Im Dorfe wußte man, daß es auf dem Gute furchtbare Stürme gegeben hatte, bis die Luft rein geworden war. Herr von Walde hatte die drei ersten Tage nach seiner Ankunft allein auf seinem Zimmer gegessen und sämmtliche Briefchen der Baronin, mit denen die alte Kammerfrau zu allen Tageszeiten vor seiner Thür gesehen worden war, zurückgewiesen, bis endlich das heftige Unwohlsein seiner Schwester ihn mit der Cousine im Krankenzimmer zusammengeführt hatte. Seit jenem Tag war der Verkehr scheinbar wieder im Geleise, wenn auch die Bedienten erzählten, daß bei Tische fast kein Wort gesprochen werde. Herr von Hollfeld war auch einmal herübergekommen, um den Heimgekehrten zu begrüßen; man wollte aber bemerkt haben, daß er nach sehr kurzem Aufenthalt mit einem bedenklich langen Gesicht wieder heimgeritten war.

An einem trüben, regnerischen Augusttage war Elisabeth von Fräulein von Walde ersucht worden, doch auf eine halbe Stunde in’s Schloß zu kommen. Die junge Dame war nicht allein, als die erstere eintrat. Im Fenster saß Herr von Walde. Die hohe Gestalt in einen Fauteuil zurückgelehnt, berührte sein Kopf leicht die hellbekleidete Wand, wodurch das dunkle Braun seines Haares auffallend hervortrat. Seine Rechte hing, die Cigarre zwischen den Fingern haltend, nachlässig vom Fenstersims herab, während er die Linke gehoben hielt, als habe er soeben gesprochen. Seine Nachbarin, die Baronin Lessen, hielt den Oberkörper vorwärts gebeugt und schien seinen Worten mit einem äußerst verbindlichen Lächeln zu lauschen, obgleich die Rede augenscheinlich nicht an sie selbst, sondern an Helene gerichtet war; sie saß ihm ziemlich nahe und hatte eine Häkelarbeit in der Hand, im Ganzen sah die Gruppe sehr friedfertig aus. Auf einer Chaise longue lag Fräulein von Walde. Ein weiter Schlafrock umhüllte die kleine Gestalt und die schönen, braunen Locken waren unter ein Morgenhäubchen gesteckt, dessen rosa Bänder die krankhafte Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhoben. Auf ihrem ausgestreckten Finger saß der Kakadu; sie hielt ihn von Zeit zu Zeit liebkosend an ihre Wange. Das „abscheuliche Thier“ hieß jetzt Liebchen, durfte schreien, so viel es wollte, und wurde höchstens durch ein mitleidiges: „Was ärgert denn mein Herzchen?“ zu beschwichtigen gesucht – also auch hier Versöhnung und vollkommener Friede.

Bei Elisabeth’s Eintreten winkte Helene ihr freundlich mit der Hand entgegen; es entging jedoch dem jungen Mädchen nicht, daß sie mit einer leichten Verlegenheit zu kämpfen hatte.

„Lieber Rudolph,“ sagte sie, indem sie Elisabeth bei der Hand nahm, „Du siehst hier die liebenswürdige Künstlerin, der ich manche genußreiche Stunde verdanke… Fräulein Ferber – von ihrem Onkel und bereits auch in der Umgegend Gold-Elschen genannt – spielt so hinreißend, daß ich sie bitten will, uns heute den trüben, grauen Himmel vergessen zu machen. Sie sehen, liebes Kind,“ wandte sie sich an Elisabeth, „daß ich noch unfähig bin, Ihnen am Clavier Gesellschaft zu leisten; wollen Sie die Freundlichkeit haben, etwas allein zu spielen?“

„Von Herzen gern,“ erwiderte Elisabeth, „aber ich werde sehr ängstlich sein; denn Sie haben mir selbst zwei unbesiegbare Mächte entgegengestellt, die Wolken da draußen und das günstige Vorurtheil, das Sie soeben für mein Spiel geweckt haben.“

„Darf ich mich jetzt auf eine Stunde beurlauben?“ fragte die Baronin, indem sie ihre Arbeit zusammenlegte und sich erhob. „Ich möchte mit Bella ein wenig ausfahren, das arme Ding ist so lange nicht an die Luft gekommen.“

„Nun, ich meine, die kann sie hier stets aus der ersten Hand haben, wenn sie sich die Mühe nimmt, den Kopf zum Fenster hinauszustecken,“ sagte Herr von Walde trocken, während er die Asche von seiner Cigarre abstreifte.

„Mein Gott, ist es Dir unangenehm, Rudolph, wenn ich fahre? … Ich bleibe auf der Stelle zu Hause, wenn –“

„Ich wüßte in der That nicht, weshalb ich Dich abhalten sollte: Fahre so oft und so viel es Dir beliebt,“ war die gleichmüthige Antwort.

Die Baronin preßte die Lippen zusammen und wandte sich zu Helene. „Also bleibt es dabei, daß der Kaffee auf meinem Zimmer getrunken wird? … Sehr lange bleibe ich doch nicht draußen, des Sprühregens halber; ich bin pünktlich in einer Stunde zurück und werde es mir nicht nehmen lassen, Dich, liebste Helene, selbst in mein Zimmer zu fahren.“

„Das wirst Du Dir doch wohl nehmen lassen müssen, Cousine,“ sagte Herr von Walde. „Es ist mein Amt seit vielen Jahren, und ich will nicht hoffen, daß meine Schwester glaubt, ich sei während meiner Abwesenheit zu ungeschickt geworden.“

„Gewiß nicht, lieber Rudolph … ich bin Dir sehr dankbar, wenn Du so freundlich sein willst!“ rief lebhaft Helene, während ihr Blick ängstlich zwischen den Beiden hin und her flog. Die Baronin hatte jedoch ihren Aerger bereits tapfer niedergekämpft. Mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen reichte sie Herrn von Walde die Hand, küßte Helene auf die Wange und rauschte mit einem: „Nun denn, auf Wiedersehen“ zur Thür hinaus.

Während dieser kurzen Verhandlung beobachtete Elisabeth die Gesichtszüge des Mannes, dessen Blick und Stimme ihr neulich einen so tiefen Eindruck gemacht… Hatte sich doch der Schrecken – denn das war ohne Zweifel einzig und allein jene mächtig angeregte Empfindung gewesen – soeben wiederholt, als sie, in die Thür tretend, Herrn von Walde unerwartet sich gegenüber sah… Wie ruhig blickte heute sein Auge, aus welchem damals Funken zu sprühen schienen; ja, es wurde sogar eisig kalt, als es auf dem Gesicht der Baronin haftete. Die obere Partie seines Kopfes, die ohnehin in ihren Linien etwas ungemein Strenges hatte, erschien durch diesen Ausdruck der Augen geradezu eisern. Ein schöngepflegter, kastanienbrauner Bart; umgab Lippen und Wangen und floß in weichen Wellen vom Kinn herab auf die Brust… Herr von Walde sah nicht jung aus, und wenn auch seine schlanke Gestalt viel Elasticität bewahrt hatte, so gaben doch die unbeschreibliche Beherrschung und Ruhe in Haltung und Geberden seinem ganzen Auftreten jene Respect einflößende Würde, wie sie nur dem reiferen Mann eigen sein kann.

Als die Baronin das Zimmer verlassen hatte, öffnete Elisabeth den Flügel.

„Nein, nein, keine Noten!“ rief Helene hinüber, als sie sah, daß das junge Mädchen unter den Musikalien suchte und wählte. „Wir wollen Ihre eigenen Gedanken hören, bitte, spielen Sie aus dem Stegreif.“

Elisabeth setzte sich ohne Zögern nieder. Bald hatte sie in der That die Außenwelt vergessen. Ein Melodieenreichthum quoll in ihr auf, der ihre Seele hoch empor trug. In solchen Momenten empfand sie stets beseligt, daß sie vor Tausenden anderer Sterblicher begnadet sei, denn sie hatte die Macht, der leisesten Regung ihres Herzens Ausdruck verleihen zu können. Die Klarheit ihrer ganzen inneren Welt spiegelte sich in den Klängen wieder: nie noch hatte sie nach der verkörpernden Melodie ihrer Empfindung suchen müssen, sie lag fertig in ihrem Innern wie das Gefühl selbst… Heute aber mischte sich etwas in die Töne, was sie nicht begreifen konnte; es hatte durchaus keine eigene Stimme; sie hätte es um keinen Preis verfolgen und erfassen können, denn es flog nur wie ein neuer, unbekannter Hauch über die Tonwellen. Es war ihr, als wandelten Schmerz und Freude nicht mehr nebeneinander, sondern flössen in Eins zusammen… Dies Suchen nach dem Wesen jenes unfaßbaren Klanges ließ sie aber immer tiefer in ihre Gefühlswelt hinabsteigen. Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_115.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)