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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

ganze, süße Geheimniß einer reinen, keuschen Mädchenseele entfaltete sich allmählich vor den Zuhörern, sie blickten in einen Wunderbrunnen, aus dessen Tiefe die äußere Erscheinung des jungen Mädchens doppelt verklärt wieder auftauchte; denn es war ja eine unlösbare Harmonie in ihrem äußeren und inneren Menschen.

Der letzte, leise Accord war verklungen. An Helenens Wimpern hingen zwei schwere Thränen, die Blässe ihres Gesichts war fast geisterhaft geworden. Sie blickte nach ihrem Bruder, aber er hatte das Gesicht abgewendet und sah hinaus in den Garten. Als er sich endlich umdrehte, waren seine Züge ruhig wie immer, nur eine leichte Röthe färbte seine Stirn, die Cigarre war seinen Fingern entglitten und lag auf dem Boden. Er sagte Elisabeth, die sich inzwischen erhoben hatte, nicht ein Wort über ihr Spiel. Helene, der dies Schweigen sichtbar peinlich wurde, erschöpfte sich in Lobeserhebungen, um dem jungen Mädchen die Kälte und Indolenz ihres Bruders vergessen oder wenigstens weniger fühlbar zu machen.

„War das wieder einmal genial!“ rief sie. „Die Leute in B. hatten sicher keine Ahnung von dem goldenen Liederquell in Elschens Brust, sonst hätten sie wohl das liebe Mädchen nicht in die Thüringer Wälder auswandern lassen.“

„Sie haben bis jetzt in B. gelebt?“ fragte Herr von Walde, das Auge auf Elisabeth richtend; sie sah einen Augenblick hinein, das Eis war geschmolzen, ein seltsamer Schimmer tauchte dafür auf.

„Ja,“ antwortete sie einfach.

„Aus einer großen, schönen Stadt, die alle erdenklichen Genüsse und Annehmlichkeiten bietet, plötzlich in den stillen Wald, auf einen einsamen Berg versetzt zu werden, das ist ein unliebsamer Tausch… Sie waren natürlich trostlos über diese Veränderung?“

„Ich betrachtete sie als ein unverdientes Glück,“ war die unbefangene Antwort.

„Wie? … Sonderbar… Ich meine man greift sonst nicht nach der Distel, wenn man die Rose haben kann.“

„Ueber Ihre Meinungen habe ich begreiflicher Weise kein Urtheil.“

„Ganz recht, weil Sie mich nicht kennen … jene Ansicht ist jedoch eine ganz allgemeine.“

„In ihrer Anwendung aber ist sie einseitig.“

„Nun denn, ich will Ihre Geschmacksrichtung, mit der Sie unter Ihren Altersgenossinnen wohl schwerlich eine gleichgestimmte Seele finden dürften, nicht weiter anfechten… In Ihrem Interesse will ich jedoch glauben, daß es Ihnen nicht ebenso leicht geworden ist, Ihre Freunde zu verlassen.“

„Sehr leicht sogar; denn – ich hatte keine.“

„Ist das möglich?“ rief Fräulein von Walde. „Sie hatten mit Niemand Verkehr?“

„O ja; aber das waren Leute, die mich bezahlten.“

„Sie gaben Unterricht?“ fragte Herr von Walde.

„Ja.“

„Aber hatten Sie nie das Bedürfniß eine Freundin zu besitzen?“ rief Helene lebhaft.

„Niemals, denn ich habe eine Mutter,“ erwiderte Elisabeth[WS 1] mit einem Tone tiefen Gefühls.

„Glückliches Kind!“ murmelte Jene und senkte den Kopf.

Elisabeth fühlte, daß sie hier eine wunde Stelle in Helenens Herzens berührt habe. Es that ihr leid, und sie wünschte lebhaft, den Eindruck zu verwischen. Herr von Walde schien diese Gedanken auf ihrem Gesicht zu lesen; denn ohne auf Helenens Verstimmung zu achten, frug er: „Und war es der Thüringer Wald ganz besonders, wo Sie zu leben wünschten?“

„Ja.“

„Und warum?“

„Weil mir schon in meiner frühesten Kindheit erzählt wurde, daß wir aus den Thüringer Bergen stammen.“

„Ah, aus dem Geschlecht der Gnadewitze?“

„So hieß früher meine Mutter – ich bin eine Ferber,“ antwortete Elisabeth bestimmt.

„Sie sagen das mit einem solchen Nachdruck, als ob Sie Gott dankten, daß Sie jenen Namen nicht zu führen brauchen?“

„Ich bin auch froh darüber.“

„Hm … er hat seiner Zeit einen bedeutenden Klang gehabt.“

„Aber keinen reinen.“

„Ei, was wollen Sie? … An allen Höfen hat er so gut gegolten wie unverfälschtes Gold; denn er war sehr alt, und vorzüglich die letzten seiner Träger sind deshalb stets mit den höchsten Würden überhäuft worden.“

„Verzeihen Sie, aber dafür habe ich ganz und gar kein Verständniß, daß …“ sie hielt erröthend inne.

„Nun? … Sie haben den Satz angefangen, und ich bestehe darauf, auch sein Ende wissen zu wollen.“

„Nun, daß Sünden belohnt werden, weil sie alt sind, erwiderte sie zögernd.

„Gemach, man sagt von mehreren Ahnen der Gnadewitze, daß sie sich brav und tapfer gezeigt haben.“

„Das mag sein, aber es liegt auch ein Unrecht in dem Gedanken, daß dies Verdienst noch nach Jahrhunderten ausgebeutet werden darf von solchen, die nicht brav und tapfer sind.“

„Sollen große Thaten nicht fortwirken?“

„Gewiß, aber wenn wir es verschmähen, ihnen nachzueifern, dann sind wir auch nicht würdig, ihre guten Folgen zu genießen,“ gab Elisabeth mit Entschiedenheit zur Antwort.

Ein Wagen rollte donnernd in die Einfahrt. Herr von Walde runzelte die Stirn und strich mit der Hand über die Augen, als sei er unsanft aus einem Traum geweckt worden. Gleich darauf öffnete sich die Thür, und die Baronin trat ein. Sie hatte, gleich Bella, die heute mit dem Anstand einer erwachsenen jungen Dame neben der Mama herschritt, Hut und Mantille noch nicht abgelegt.

„Da wären wir glücklich wieder!“ rief sie. „Ist das eine abscheuliche Luft heute! Ich habe es tausend Mal bereut, mich hinaus gewagt zu haben, und werde wahrscheinlich für meine mütterliche Fürsorge mit einem tüchtigen Schnupfen büßen müssen… Bella möchte gern selbst sehen, wie es Dir geht, liebe Helene; ich habe mir deshalb erlaubt, sie mit herein zu nehmen.“

Die Kleine ging geraden Schrittes auf das Ruhebett los. Sie schien Elisabeth nicht zu bemerken, die dicht daneben saß, und streifte sie so hart, als sie sich bückte, um Helenens Hand zu küssen, daß ein Knopf ihres Mantels die leichte Garnirung an Elisabeth’s Kleid faßte und zerriß. Bella hob den Kopf und schielte seitwärts auf den Schaden, den sie angerichtet; dann drehte sie sich um und ging hinüber zu Herrn von Walde, um ihm die Hand zu geben.

„Nun,“ sagte dieser, indem er seine Hand zurückzog, „hast Du keine Entschuldigung für Deine Ungeschicklichkeit?“

Sie erwiderte kein Wort und retirirte neben die Mama, auf deren Wangen die zwei verhängnißvollen rothen Flecken erschienen. Der Blick, den sie Elisabeth zuwarf, zeigte indeß, daß ihr Unwille nicht dem ungezogenen Töchterchen galt.

„Nun, Kind, kannst Du nicht reden?“ fragte Herr von Walde nochmals, indem er sich erhob.

„Fräulein Ferber saß aber auch so nahe,“ entschuldigte die Baronin an Stelle der hartnäckig schweigenden Bella.

„In der That, ich hätte fortrücken sollen… Das Unglück ist ja auch gar nicht so groß,“ sagte Elisabeth ängstlich und griff mit einem anmuthigen Lächeln nach Bella’s Hand. Die Kleine aber that, als sähe sie diese Bewegung nicht, und steckte beide Hände unter den Mantel.

Ohne ein Wort zu sagen, schritt Herr von Walde auf sie zu, faßte sie am Arme und führte sie direct zur Thür, die er öffnete „Du gehst jetzt augenblicklich hinüber in Dein Zimmer,“ gebot er, „und kommst mir nicht eher wieder vor die Augen, als bis ich es wünsche.“

Die Baronin war innerlich außer sich. Ihre Züge arbeiteten einen Augenblick heftig; aber was konnte sie thun? Sie hatte keinerlei Waffen gegen die Gewaltthätigkeit und Barbarei dieses Mannes, der hier Gebieter war und jetzt mit einer so empörenden Ruhe seinen Platz wieder einnahm, als sei er sich der Grausamkeit seiner Handlung nicht im Entferntesten bewußt. Endlich siegte die Klugheit der Dame.

„Ich hoffe, lieber Rudolph,“ sagte sie, ihre Stimme bebte ein wenig, „Du wirst Bella die kleine Unart nicht nachtragen… Ich bitte Dich, nimm ein wenig Rücksicht, ihre Gouvernante ist gar zu tölpelhaft.“

„Miß Mertens? … Nun, der mag es bei ihrer angeborenen Sanftmuth und ihrem feinen Tact unsägliche Ueberwindung kosten, Bella so zu erziehen, wie sie sich eben gezeigt hat!“

(Fortsetzung folgt.)

Anmerkung (Wikisource)

  1. Vorlage: Helene
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_116.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)