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Dritte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, wirkt verstimmend auch auf die Umgebung, und von dieser gesteigert wieder zurück. – Dem härtesten und strengsten Herrscher ist leichter zu genügen, als einem launischen Menschen, dem durch das schwarze Glas der Schwermüthigkeit Alles in anderer Farbe und das Unangenehme in anderer Größe erscheint. Ungerecht und hart wird er gegen seine Untergebenen; denn er rügt und bestraft nicht blos wirkliche, sondern auch eingebildete Vergehungen, und zwar auch die wirklichen nicht nach ihrer wahrhaften, sondern nach ihrer eingebildeten Größe. Halten sie gleichwohl bei ihm aus, so wenden sie doch ihr Herz von ihm ab. Entschädigt er sie für erlittenes Unrecht, so zeigt er sich schwach und verliert an Ehrfurcht. Giebt er das Gefühl der Reue nicht zu erkennen, so drückt ihn die Last bösen Bewußtseins. In beiden Fällen wird die Folge seiner Verstimmung zu einer neuen Ursache derselben, ein Wechsel, der sich so lange wiederholt, bis die Schwermuth den vollendetsten und unglücklichsten Tyrannen gebildet hat.

Und da die Schwermüthigkeit im Zusammentreffen mit dem Frohsinn eine Disharmonie erzeugt, wie Töne zu einem falschen Accorde verbunden, so ist das Loos der nächsten Angehörigen des Hypochondristen nicht günstiger, als das seiner Untergebenen, wenn sie ihrem Temperamente nach von dem leidenden Familienhaupte verschieden sind. Ein heiteres Gesicht, ein munteres Lachen, ein fröhlicher Gesang, kurz jeder Ausdruck innerer Zufriedenheit verletzt den Schwermüthigen, ist ihm eine Verhöhnung seines Zustands, macht ihn bitter und hart selbst gegen die Blutsfreunde, die er liebt, und indem er so am eigenen Fleische nagt, verscheucht er den Frohsinn endlich selbst von des Kindes unbewölkter Stirn und umgiebt sich von allen Seiten mit so düsterm Gewölk, daß ihm kein heiterer Sonnenstrahl mehr daraus hervorbricht.

Vierte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, läßt kein warmes Interesse an Leid und Freud’ Anderer zu und macht den Menschen daher werthlos für die Welt. – Der Selbstsüchtige schadet der Welt: er will sie für sich ausbeuten, er sieht nur sich als Zweck, alles Andere als Mittel an. Der Wohlwollende ist eine der Säulen, welche die Welt tragen. Wie die majestätische Sonne will er, mit edler Selbstverleugnung, nur Licht und Wärme um sich her verbreiten; nicht aber aus dem Mittelpunkt will er das Ganze beherrschen, sondern als nützliches Theilchen dem großen Ganzen sich anschließen. Der, welcher an trüber Gemüthsstimmung leidet, kann zwischen Beiden nur in der Mitte stehen: er will nicht schaden, kann aber auch nicht nützen. Wenn sein Herz auch das weichste und fühlendste wäre, der Fernblick nach dem, was nur Andere betrifft, das zarte Gefühl für Wonne und Schmerz, welche die Menschheit oder einen Theil derselben, eine Nation, einen Umkreis, einen Ort betreffen: dieser Fernblick und dieses zarte Gefühl, die es dem Menschen möglich machen, für weitere Sphären zu schaffen, die seinen Namen in weite Fernen tragen und von dort selbst ihm Liebe und Ruhm zuführen – diese beiden Erfordernisse des Wohlwollens gehen dem Schwermüthigen ab. Hat er für sein persönliches Wohl kein wahres, warmes Interesse, wie soll er das viel Umfassendere für Gemeinwohl haben? Widrig, nachsichtslos, unfreundlich, wie er gegen Andere ist, fehlen ihm selbst die unentbehrlichsten Eigenschaften zur Geselligkeit. Welchen Werth aber hätte ein Glied, das sich nicht irgendwo einem andern anreiht in der Kette, zu welcher es gehört? Sie schließt sich ohne dasselbe, und das einzelne Glied wird als unbrauchbar von ihr ausgestoßen.

Fünfte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, setzt den Menschen einer falschen, ungünstigen Beurtheilung aus. – Nur der Allwissende vermag in den Falten des Herzens zu lesen, der Mensch bildet sein Urtheil nach dem, wie die Dinge seinem Auge erscheinen; dem menschlichen Auge erscheint aber Vieles anders, als es in der Wirklichkeit ist. Nach einer zufälligen äußern Aehnlichkeit wirft der Mensch zwei wesentlich verschiedene Dinge wie Gegenstände von gleicher Art zusammen. Bei seiner oberflächlichen Anschauung entgeht ihm, bei gleicher Handlungsweise, die Verschiedenheit der Beweggründe; bei gleichen Wegen schließt er auch auf gleiches Ziel. Wie Gesichter werden daher auch oft Gemüthsarten mit einander verwechselt, und wer darum für sein wahres Selbst gehalten sein will, der enttäuscht seine Beschauer und giebt sich ihnen zu erkennen. Trübe Gemüthsstimmung bindet nun aber dem innern Menschen eine Larve vor, die ihn, bei oberflächlicher Anschauung, mit Andern leicht verwechseln läßt, und zwar so, daß er durch die Verwechselung niemals gewinnt, meistens aber verliert. Sein Trübsinn scheucht ihn von munterer Gesellschaft weg, die Welt aber beschuldigt ihn des Stolzes. Oder er flieht sie zwar nicht, trägt aber wenig oder gar nicht zur allgemeinen Unterhaltung bei und man flüstert sich von ihm zu: „Wie dumm! Wie unwissend!“ Man hält ihn für geizig, weil er sich selten ein Vergnügen gestattet; für ungenügsam, weil man ihm innere Unzufriedenheit anmerkt; für tadelsüchtig und zänkisch, weil Niemand es ihm recht machen kann; für neidisch, weil er sich nicht mit Glücklichen freut, und für herzlos, weil er nicht mit Betrübten weint, ja für lieblos selbst gegen die Seinigen, weil er auch gegen sie fast immer kalt, fast niemals zärtlich ist. Jedes einzelne Urtheil über ihn kann ein falsches sein und ist es auch oft. So lange er sich jedoch nicht in seiner wahren Gestalt zeigen kann, wird er höchstens von seiner nächsten Umgebung erkannt. Er verdient vielleicht die Achtung und Liebe Aller, wird sich derselben aber nicht erfreuen.

Sechste Folge. Die Hypochondrie führt endlich oft zu Lebensüberdruß und endet dadurch bei Vielen mit Selbstmord. – Wenn die Gesundheit eines Menschen zerstört ist, seine Vermögensumstände rückwärts gehen, selbst innerhalb der Familie ihn kein freundliches Gesicht mehr anlächelt, er keinen Werth für die Welt und diese keinen Werth für ihn hat; wenn dazu endlich noch das trübe Gefühl kommt, von Wenigen nur verstanden, von den Meisten aber verkannt zu werden: was vermöchte einem solchen Menschen dann noch Freude am Leben zu gewähren? Es ist ihm eine Bürde, die er, je eher, desto lieber, abwerfen möchte. Er ist ein Wesen, das mit dem Erdendasein gebrochen, das dessen Lust nicht mehr kennt und für dessen Schmerz kein wahres Gefühl mehr hat; eine lebendig umherwandelnde Leiche; ein Geist, der seine körperliche Hülle nur noch wie ein leicht übergeworfenes Gewand trägt; ein Morgenschatten, der als solcher noch mit jeder Stunde abnimmt.

Hat der Unglückliche bei diesem Zustande noch sittliche Kraft genug, so fürchtet er Hand an sich zu legen, so wartet er, bis ihm von höherer Hand seine Bürde abgenommen wird. Fehlt ihm aber auch zugleich jenes Kleinod, so schwindet ihm endlich der letzte Rest von Kraft, sein wirkliches oder vermeintes Mißgeschick zu ertragen, so schließt er den schmählichen, feigen Tauschhandel eines kurzen, freiwilligen, größern Schmerzes für einen ihm von anderer Hand auf ungewisse Dauer auferlegten kleinern, so wird er zur Schande seines Namens und zum Kummer seiner Angehörigen die Parze seines eigenen Lebensfadens. Ein unglücklicher Augenblick giebt die unglückliche Idee ein, und diese Idee wird dann so unwiderstehlich anziehend, wie jenes Unthier, dem sein Opfer selbst in den Rachen laufen soll.

Daß das Land der Nebel – nach Andern der Berechnung – zugleich vorzüglich auch das Land der Selbstmorde ist und daß nicht blos dieser als solcher, sondern auch jede Art desselben epidemische Jahre hat: diese beiden Erscheinungen bewähren, daß sich der Unglückliche selbst oft über den Grund seines tragischen Endes täuscht.


4. Von den Mitteln gegen Hypochondrie.


Welcher Art aber auch die Quelle dieses Uebels sei, so lange es nicht seinen höchsten Gipfel erreicht hat, ist es auf die eine oder andere Weise heilbar. Ein höchst wirksames Mittel ist durch den vorigen Abschnitt bereits angegeben; denn durch Nichts wird der Mensch ernstlicher und nachdrücklicher gemahnt, gegen ein Uebel anzukämpfen, als dadurch, daß ihm die ganze mögliche Größe vorgehalten wird, zu welcher es heranwachsen kann.

Erstes Mittel ist demnach: Bedenke die nachtheiligen und gefährlichen Folgen dieses Uebels. – Vor manchem Unglück bliebe der Mensch ja bewahrt, wenn er bei seinem Thun wirklich immer die Folgen bedächte; warum sollte es hier, wo so viel von der Willenskraft geschehen kann, anders sein? Wer daher das verlorene Glück eines heiteren Gemüthes wiederfinden und festhalten möchte, der kann den vorhergehenden Abschnitt nicht oft genug zu seiner Lectüre machen. Er lese ihn, so oft sich die trübe Stimmung seiner bemächtigen will. Er lese ihn in fortwährendem Vergleich mit seinem Zustand, und wenn er mit Betrübniß finden sollte, daß sich manche der angedeuteten Folgen schon bei ihm eingestellt, so möge er sich darum

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