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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Ich bin durch die plötzliche Wendung meines Geschickes so überrascht,“ sagte Miß Mertens, nachdem Elisabeth ihren Glückwunsch ausgesprochen hatte, „daß ich für Momente meine Augen schließen muß, um mich zu sammeln … Heute Morgen war es dunkel über mir, und ich wußte buchstäblich nicht, wohin ich meine Schritte lenken sollte … der Boden wankte unter meinen Füßen … Und nun mitten in dieser Bedrängniß thut sich plötzlich eine Heimath vor mir auf. Ein Herz, das ich hochachte, dessen Neigung für die arme Gouvernante mir aber bis dahin völlig unbekannt geblieben war, will mir treu zur Seite stehen, und der heißeste Wunsch meines Lebens erfüllt sich, denn ich darf nun das gute, alte Mütterchen selbst hegen und pflegen … Was wird sie nur sagen, wenn sie die Nachricht erhält, sie, die mit der schmerzlichsten Mutterangst mich draußen wußte in Sturm und Wetter und mich doch nicht zurückrufen durfte an ihr Herz!“

Sie erzählte Elisabeth, daß Reinhard in einigen Wochen selbst nach England gehen und die Mutter holen werde. Sein Gebieter habe es so bestimmt und trage die Reisekosten. So oft Miß Mertens Herrn von Walde erwähnte, flossen ihre Augen über, und sie versicherte wiederholt, Alles, was die Baronin an ihr verschuldet, sei tausendfach ausgeglichen durch ihn, der es nicht ertragen könne, daß in seinem Hause irgend eine Ungerechtigkeit ungesühnt bleibe. Mit ihrer Einladung machte Elisabeth das Maß der Freude voll. Miß Mertens hatte für den ersten Augenblick in das kleine Lindhofer Gasthaus gehen wollen, bis sich ein Unterkommen im Dorfe selbst für sie finden würde.

„Nun wollen wir aber auch so bald wie möglich auf den Berg,“ rief sie freudestrahlend. „Die Baronin hat mir vorhin meinen Gehalt herübergeschickt und sich jegliche Annäherung meinerseits verbitten lassen … Bella ist durch mein Zimmer gegangen, ohne mich eines Blickes zu würdigen; das that wehe, schmerzlich wehe, denn ich habe sie gepflegt und behütet, wie meinen Augapfel. Sie war früher sehr kränklich, und während die Mutter die Hoffeste besuchte, saß ich daheim viele Nächte hindurch und bewachte die Fieberträume des Kindes … Nun, das soll Alles vergessen sein … Ich wollte eigentlich auch nur sagen, daß ich des Abschiedes von Beiden überhoben bin.“

Während Miß Mertens, um sich zu verabschieden, zu Fräulein von Walde und einigen Leuten im Hause ging, die sie lieb gewonnen hatte, packte Elisabeth ein. Die neue Bewohnerin von Gnadeck nahm nur das Nöthigste mit, alles Uebrige wurde hinab in die Wohnung des zukünftigen Ehepaares geschafft.

Es amüsirte Elisabeth, unten in einem Glasschrank – denn Herr von Walde hatte auch die ganze Einrichtung den künftigen Bewohnern zur Benützung überlassen – sämmtliche Bücher der Gouvernante aufzustellen. Das waren aber lauter Werke, die ihr Interesse lebhaft weckten; es blieb nicht beim Aufschlagen des Titels, sondern ganze Capitel wurden stehenden Fußes, bei offenen Thüren und Fenstern, in aller Eile durchflogen. Miß Mertens und ihr Umzug versanken, als ob sie nie dagewesen, da fiel über ihre Schulter herab eine frische Rose auf das Buch, in dem sie eben las. Elisabeth erschrak, aber gleich darauf lächelte sie und las um so eifriger weiter, mit einer leichten Wendung die Rose abschüttelnd. Miß Mertens, die ohne Zweifel hinter ihr stand, sollte den Triumph ihrer Neckerei nicht genießen … Plötzlich aber stieß sie einen leisen Schrei aus – eine schöngeformte, weiße Männerhand kam neben ihr zum Vorschein und legte sich sanft auf die ihre. Sie drehte sich um, nicht Miß Mertens, sondern Hollfeld stand hinter ihr und breitete lächelnd seine Arme aus, als wolle er die Erschrockene auffangen.

Sofort verwandelte sich ihr Schrecken in Zorn und Entrüstung, aber ehe sie noch ein Wort hervorbringen konnte, rief eine befehlende, rauhklingende Stimme in ihrer Nähe: „Emil, Du wirst im ganzen Hause gesucht. Dein Verwalter aus Odenberg hat Dir Dringendes mitzutheilen. Gehe hinüber!“

Neben Elisabeth befand sich das Fenster – es war offen. Draußen stand Herr von Walde und sah, beide Arme auf die Brüstung gestemmt, in das Zimmer herein. Er hatte die Worte gerufen, die den tödtlich erschrockenen Hollfeld wie eine Handvoll Spreu hinauswehten. Welcher Ausdruck voll Grimm lag in diesem Augenblick auf der unbedeckten Stirn, in den zusammengepreßten Lippen und dem funkelnden Auge, das noch eine Weile nach der Thür starrte, durch welche Hollfeld verschwunden war!

Endlich fiel sein Blick wieder auf Elisabeth, die bis dahin regungslos gestanden hatte, jetzt aber, von ihrem zwiefachen Schrecken sich erholend, eine Bewegung machte, als wolle sie in den Hintergrund des Zimmers zurücktreten.

„Was thun sie hier?“ fragte er barsch; seine Stimme hatte genau den rauhen Klang wie zuvor. Das junge Mädchen fühlte sich tief verletzt durch die Art und Weise der Anrede, und war im Begriff, trotzig zu antworten, als sie bedachte, daß sie ja auf seinem Grund und Boden stehe; deshalb erwiderte sie ruhig:

„Ich ordne Miß Mertens’ Bücher.“

„Sie hatten eine andere Antwort auf den Lippen – ich sah es und will sie wissen.“

„Nun denn – ich wollte sagen, daß ich auf eine so ungewöhnliche Art zu fragen keine Antwort habe.“

„Und warum unterdrückten Sie diese – Zurechtweisung?“

„Weil mir einfiel, daß Sie hier das Recht haben, zu befehlen.“

„Es ist lobenswerth, daß Sie dies einsehen; denn ich bin gesonnen, dieses mein gutes Recht gerade in diesem Augenblick voll zur Geltung zu bringen – zertreten Sie die Rose, die da so schmachtend zu Ihren Füßen liegt.“

„Das werde ich nicht thun – denn sie hat nichts verschuldet.“

Sie hob die Rose, eine schöne, halbgeöffnete Centifolie, vom Boden auf und legte sie auf den Fenstersims. Herr von Walde ergriff die Blume und warf sie ohne Weiteres hinüber auf den Rasenplatz.

„Dort stirbt sie einen poetischen Tod,“ sagte er ironisch, „die Grashalme decken sie zu, und Abends kömmt ein mitleidiger Thau und weint seine Thränen auf die arme Geopferte.“

Die Spannung in seinen Zügen hatte nachgelassen, aber sein Auge hatte noch denselben Inquisitorenblick wie zuvor, und auch sein Ton klang nicht viel milder, als er fragte:

„Was lasen Sie eben, als ich das Unglück hatte, zu stören?“

Goethe’s ‚Wahrheit und Dichtung‘.“

„Kennen Sie das Buch?“

„Nur einzelne Auszüge.“

„Nun, wie gefällt Ihnen die rührende Geschichte vom Gretchen?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Sie halten Sie ja gerade aufgeschlagen in den Händen.“

„Nein, ich las die Krönung Joseph’s des Zweiten in Frankfurt.“

„Zeigen Sie her.“

Sie gab ihm das aufgeschlagene Buch.

„Wahrhaftig! … Aber sehen Sie doch, wie abscheulich das ist! gerade hier, wo Goethe den Kaiser die Römerstiege hinaufschreiten läßt, ist ein häßlicher, saftgrüner Fleck… Sie haben ohne Zweifel die Rosenblätter zu innig darauf gedrückt, das werden der Kaiser, Goethe und Miß Mertens Ihnen sicher nicht verzeihen.“

„Der Fleck ist alt, ich habe die Rose gar nicht berührt.“

„Aber Sie haben gelächelt bei ihrem Anblick.“

„Weil ich glaubte, sie sei von Miß Mertens.“

„Ach, diese Freundschaft hat etwas Rührendes! … es war jedenfalls eine Enttäuschung für Sie, als Sie statt der Freundin das schöne Gesicht meines Vetters hinter sich sahen?“

„Ja.“

„‚Ja‘ – wie das nun klingt! … Ich liebe die lakonische Kürze; aber sie darf mich nicht in Zweifel lassen … Was soll ich nun mit diesem ‚Ja‘ anfangen? Es klingt weder süß, noch bitter, und dazu Ihr Gesicht! … Warum haben Sie plötzlich eine trotzige Falte zwischen den Augen?“

„Weil ich denke, jedes Recht habe seine Grenzen.“

„Ich wüßte nicht, daß ich in diesem Augenblick von meinem Recht Gebrauch gemacht hätte.“

„Das wird Ihnen gewiß klar werden, wenn Sie sich die Frage stellen, ob Sie mir in meines Vaters Hause in so rauher Weise begegnen würden.“

Eine tiefe Blässe flog über Herrn von Walde’s Gesicht. Er preßte die Lippen aufeinander und trat einen Schritt zurück. Elisabeth nahm das Buch, das er auf den Fenstersims gelegt hatte und ging nach dem Bücherschrank, um ihn zu schließen.

„Ich würde unter den gleichen Verhältnissen in Ihres Vaters Hause ganz ebenso gesprochen haben, sagte er nach einer Weile etwas ruhiger und wieder näher an das Fenster herantretend. „Sie haben mich ungeduldig gemacht, warum antworten Sie so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_150.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)