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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Die gesegneten Mütter aller unserer bedeutenden Männer zerfallen in zwei große Gruppen. Die eine sammelt sich um die rührende und verklärte Gestalt Monica’s, der Mutter St. Augustin’s, die andere um jene lebensvolle Erscheinung der Frankfurter Patricierin – der Frau Rath Goethe.

In der ersten Gruppe finden wir jene ätherischen Wesen mit gen Himmel gerichteten Blicken, die wie Fleisch gewordene Schutzgeister mit leisen Tritten dem Schritt des Kindes folgen, die das Ideal des schwärmenden Jünglings werden und der Trostengel des Mannes in seiner Todesstunde. In der zweiten begegnen uns kluge, lachende Augen und frische Wangen, die Frauen, die ihre Söhne zu lehren verstehen, „hineinzugreifen in’s volle Menschenleben“, von denen eben diese Söhne die „Frohnatur“ erben und „die Lust zum Fabuliren“. Es müßte eine interessante Aufgabe sein, die Mütter unserer Märtyrer, Helden, Dichter und Künstler nach dieser Eintheilung zu classificiren. –

Der erste Ausflug Liszt’s galt der Weltstadt Paris, jener wunderschönen, grausamen Sphinx mit dem sinnverwirrenden Lächeln und den „Löwentatzen“. Das Conservatorium unter Cherubini’s Leitung war der Stern, dessen Licht die junge Künstlerseele mit unwiderstehlicher Gewalt anzog. Beide Eltern begleiteten den Sohn in das moderne Babylon. Der Componist des „matrimonio segretto“[WS 1] und des „Wasserträgers“ lauschte dem Spiel jener schlanken Finger. Und er staunte über diesen flügelschlagenden jungen Aar, aber – Franz Liszt wurde dennoch nicht, wie er es so heiß ersehnt, Schüler der berühmten Musikschule, ihre Gesetze verweigerten dem Fremden den Eintritt. Dagegen wurde der Knabe etwas Anderes in kürzester Frist, nämlich der Liebling von ganz Paris. In allen Salons der hohen Aristokratie begegnete man fortan der schlanken Knabengestalt; schöne Augen schauten bewundernd auf ihn, sammetweiche Händchen liebkosten seine Wangen. Die Erfolge, die Franz Liszt feierte, die Güte und Liebenswürdigkeit seiner Lehrer, Paër und Reiche, die Zärtlichkeit seiner Eltern, die sich zu verdoppeln schien, als sie den Knaben unter jener fehlgeschlagenen Hoffnung leiden sahen, tröstete allmählich die junge Seele über den Schmerz, Cherubini’s Unterweisung nicht genießen zu dürfen. Der Herzog von Orleans, der nachmalige König der Franzosen, war es, der den Knaben zuerst einen neuen Mozart nannte, und dies Wort schwebte bald auf Aller Lippen. Die Pariser Blätter, ohne Ausnahme, ergingen sich in Lobpreisungen dieses seltenen und bezaubernden Talents und prophezeiten eine große Zukunft. Die Concerte, in denen Adam Liszt seinen Sohn zuweilen dem größeren Publicum vorführte, waren gedrängt voll und die Franzosen in ihrer Lebhaftigkeit und Begeisterungsfähigkeit brachten dem jungen Virtuosen alle erdenklichen Ovationen. Aber der süße Wein aller dieser Huldigungen berauschte diesen klaren Kopf und diese nach den höchsten Zielen strebende Seele keinen Augenblick. Wer den Knaben hätte belauschen dürfen, wer ihn in all’ seiner Formensicherheit und in der heitern geistvollen Grazie seines Wesens unter seinen vornehmen Freunden sich bewegen gesehen, wie er im einfachen Musikzimmer daheim mit dem strengsten Ernst stundenlang Bach’sche Fugen und Präludien spielte und diese Fugen in andere Tonarten zu übertragen versuchte, den würde dieser Feuereifer entzückt haben. Immer höher erglühten dann die Wangen, immer heller leuchteten die Augen, der Lernende und der Spielende vergaß Zeit und Stunde, bis sich endlich zwei weiße, feine Hände sanft auf seine Finger legten, zwei weiche Arme ihn umschlangen und die heiße Stirn an die Schulter der Mutter sank. Aber dieser milde Schutzgeist in so anmuthiger Gestalt blieb damals nicht lange in Paris an seiner Seite; die schwere Erkrankung ihrer einzigen Schwester rief sie nach Graz.

Erst nach der Trennung von der Mutter und sorgenden Hausfrau unternahmen Vater und Sohn kleine Reisen in die Departements, um überall Ruhm und Gold zu ernten. Und weiter und weiter trugen ihn die Schwingen, endlich selbst über die Wasserwoge in das nebelvolle England. Auch dort erregte er Staunen und Bewunderung.

Im Jahre 1825 fand in Paris die Aufführung einer kleinen Oper statt: „Don Sancho ou le château de l’amour“. Das Theater der Academie Royale war überfüllt, die Darstellung meisterhaft, jede Nummer wurde mit dem lebhaftesten Beifall aufgenommen. Man ruft jubelnd den Namen des Componisten: Franz Liszt. Tücher wehen, schöne Hände winken und der Darsteller des Don Sancho trug den kaum fünfzehnjährigen Knaben auf seinen Armen der jauchzenden Menge entgegen. Aber das Zauberschloß hatte auch eine gefährliche Thürhüterin: Mademoiselle Rose, die reizende Sängerin. Sie war es, die den jungen Sieger hinter den Coulissen empfing. Im Nu war sein Kopf zwischen ihren kleinen Händen, ein rosiges, lachendes Antlitz schmiegte sich an das seine, zwei süße, brennende Lippen berührten den Mund, den bis zur Stunde nur eine Mutter geküßt.

War es vielleicht die Erinnerung an jenen berauschenden Lohn, welcher ihm nach der ersten Aufführung des Don Sancho geworden, was ihm allen anderen Beifall kalt und arm erscheinen ließ; war es der ernste Briefwechsel mit seiner Mutter, oder war es endlich jener ermattende Ueberdruß, der so oft hochfliegende Seelen überschleicht, jenes alle Freude vergiftende Bewußtsein von der Ohnmacht jedes menschlichen Strebens und der Vergänglichkeit alles Erdenruhms: genug, der junge Franz verlor plötzlich seine neckische Heiterkeit, seinen genialen Uebermuth. In düsteres Grübeln versenkt, vertiefte er sich in religiöse Bücher; die Väter der Wüste, das Leben der Märtyrer und die Bekenntnisse des heiligen Augustin wurden seine liebste Lectüre. In seinen Briefen an die ferne, treueste Freundin seiner Seele legte er alle Scrupel, Zweifel und Träumereien nieder, und sie dankte den Heiligen für solche frühe Wandelung; sie sah den geliebten Sohn schon geborgen, entrückt allen heißen Kämpfen ruhend im tiefen Schatten eines Klosters.

Anders war der Eindruck, den diese plötzliche Veränderung des Sohnes auf den Vater machte. Er ängstigte sich um die große Zukunft des Künstlers, an die seine Seele so fest glaubte wie an den Himmel selber. Auf den Rath eines ärztlichen Freundes unternahm er eine Reise in die Schweiz mit seinem Liebling und führte ihn dann in das Seebad Boulogne. Die Freude, die Wangen des Sohnes in neuer Frische erblühen, dessen Heiterkeit wiederkehren zu sehen, sollte seine letzte auf Erden sein. Adam Liszt schied am Augustustage von dem Stolz und Glück seines Herzens und ließ sein Kind allein in dem ersten Morgenroth seines jungen Ruhms. Die treue Mutter eilte voll tiefstem Schmerz, als die Schreckenskunde sie erreicht, nach Paris zurück, um bei dem nun Verlassenen zu bleiben. Sie gewahrte bald die Rückkehr des Sohnes zu seiner geliebten Kunst, ihre Hoffnungen verflogen, aber kein Laut, kein Zeichen verrieth, daß sie darüber trauere, sie begnügte sich damit in seiner Nähe zu bleiben, ihm eine Heimath zu bereiten, ihm zuzulächeln, wenn er müde, ihn zu pflegen, wenn er ermattet, und seinen Triumphen in der Welt von ferne zuzuschauen mit dem entsagenden Blick einer Heiligen.

In jenen Tagen war es, wo eine Frauenerscheinung den Weg des jungen Künstlers kreuzte. Ein Köpfchen taucht auf, halb verhüllt von niederwallenden goldgesäumten Schleiern, wie aus Wolken schauend, wie auf Goldgrund von dem Pinsel eines Tintoretto gemalt, und rings um dies Bild zieht sich ein Kranz von rothen Rosen und Passionsblumen. Es war eine glühende, junge Liebe und ein verzweifeltes unabwendbares Entsagen, und Niemand als die Augen der Mutter sahen Beides und Niemand als die Lippen der Mutter durften versuchen zu trösten.

Lieb und Leid waren so groß, daß Franz Liszt aus den glänzenden Gesellschaften verschwand, daß sein Fuß die glatten Parkets nicht mehr betrat, auf denen er sonst so sicher einhergeschritten, daß ihn auch die engeren Freundeskreise schmerzlich vermißten, daß man ihn nirgend mehr hörte. In dem stillen Zimmer der Mutter saß er, auf einem niedern Tabouret, den Kopf an ihre Kniee gelehnt.

Ihre weiße Hand lag auf seinem dunkelblonden Haar, ein Haar, das die französischen Frauen so lebhaft bewunderten. Heißer denn je betete die Mutter in dieser Lebenskrise für den Frieden des Sohnes, aber sie selbst war es auch, die ihn unablässig an den Trost seiner Kunst mahnte, die ihn an den verlassenen Flügel führte und seine widerstrebenden Hände auf die Tasten legte. Wild und zerrissen klangen die Phantasien, denen sich der Jüngling jetzt überließ. Stundenlang irrten nun die Finger wieder auf und nieder, aber Niemand durfte zuhören, als die Mutter. Da drang in das melancholische Stillleben der Beiden plötzlich die Nachricht von der Ankunft eines jener wunderbaren Phänomene, wie sie vielleicht eben nur von Jahrhundert zu Jahrhundert über die Erde ziehen: Paganini traf in Paris ein und zeigte sein erstes Concert an. Die Weltstadt hatte seit jener Stunde kein anderes Interesse mehr. Alles redete einzig und allein von dem märchenhaften Geigenkönig, aus dessen Amati die ruhelose Seele eines gemordeten Weibes klagte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Tatsächlich war Domenico Cimarosa der Komponist des „Matrimonio segretto“ (vergleiche: Kleiner Briefkasten, Heft 12, Seite 192).
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_153.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)