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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Zoll. An seinem vordern, gewölbten Rande befindet sich der Giftcanal, dessen vordere Wandung eine Naht erkennen läßt, in der die beiden Hälften mit einander verwachsen; an seinem obern und untern Ende ist er offen, oben zur Aufnahme, unten zum Abfluß des Giftes. Der Giftcanal geht somit nicht etwa durch die Mitte des Zahns; hier ist freilich auch eine Höhlung, diese endet aber blind und ist zur Aufnahme der Nerven und Gefäße des Zahns bestimmt. Durch die Bewegung des Oberkiefers wird nun der Zahn in verschiedene Stellungen gebracht: während der Ruhe oder zur Zeit des Verschlingens liegt er, die Spitze nach hinten gewendet, in einer derben,


Die Kreuzotter.

wulstigen Scheide, erst bei beabsichtigtem Bisse zuckt er blitzschnell hervor und steht nun senkrecht aufgerichtet. Packt man eine Kreuzotter mit fester Hand oben hinter dem Kopfe, so sieht man deutlich das ganze Spiel der Giftzähne. Man bemerkt dann, wie jede Oberkieferhälfte für sich beweglich ist, wie jetzt der eine, dann der andere Zahn in vergeblichem Bemühen sich anstrengt, die Finger zu erreichen, wie der Zahn sogar seitliche Wendungen zu vollführen vermag. Außerdem erblickt man im sperrweit geöffneten Rachen noch vier sich vorn nicht verbindende Reihen kleinerer Zähne, zwei im Gaumen, nahe bei einander, zwei auf den beiden Unterkieferhälften. (Giftlose Schlangen haben sechs solcher Zahnreihen, indem hier auch die beiden Oberkieferhälften deren tragen.) Auffällig erscheint ferner die nahe dem Vorderrande der Unterkinnlade befindliche deutliche Mündung der Luftröhre, eine nothwendige Einrichtung für die stundenlang mit dem Verschlingen eines Bissens beschäftigten Thiere, und noch weiter nach vorn gerückt sieht man eine kleinere Oeffnung als Eingang zu einem Canale, der die schwarze, zweispitzige Zunge beherbergt. Von den Giftzähnen stehen mitunter an einer Kieferhälfte zwei neben- (nicht hinter-) einander, die zu gleicher Zeit thätig sein können, und hinter ihnen, als Reservezähne, zwei bis sechs kleinere, noch nicht völlig ausgebildete Zähne, welche im Fall des Abbrechens oder auch beim jährlichen Zahnwechsel an Stelle der vorderen rücken.

Belauschen wir nun das Thier, wie es sich seiner Beute bemächtigt und dieselbe verschlingt. Wir müssen sie dazu im Freien aufsuchen, denn nie nimmt die Kreuzotter Nahrung in der Gefangenschaft zu sich, sondern weiht sich hier freiwillig dem langsamen Hungertode, scheint sogar so versessen darauf zu sein, daß sie schon kurze Zeit nach oder selbst im Augenblick der Gefangennahme die kurz vorher verschlungene Nahrung ausspeit. Die Kreuzotter wird in ganz Europa bis zum sechszigsten Grad der Breite, wo ihr Jagdwild, die Feldmaus, vorkommt, an Stellen gefunden, die ihr gute Schlupfwinkel darbieten und ihr erlauben, recht oft im warmen Sonnenschein ungenirt zu ruhen. Nasse oder dumpfige Orte, moderige, von der Sonne gemiedene Klüfte scheut sie; ihre Schlupfwinkel bestehen in verlassenen Maulwurfsgängen, Mauslöchern, Klüften zwischen Steinen und Baumwurzeln etc. Meist liegt sie unbeweglich, nur von Zeit zu Zeit die tastende, aber weder schmeckende noch stechende Zunge vorstreckend. Eine eigentliche Jagd unternimmt sie nicht, sondern wartet gemächlich, bis die Beute so gefällig ist, zu ihr zu kommen. Freilich muß sie deshalb oft lange auf einen guten Bissen warten, aber sie versteht sich auf’s Hungern und macht sich nichts daraus, wenn auch ein halbes Jahr vergeht, ohne daß es etwas zu beißen giebt. Die harmlos-kecke Maus, welche ihr als gewöhnliches Opfer anheimfällt, hat gar keine Scheu vor dem bösartigen Thiere, bemerkt es kaum oder wenn auch, beachtet es nicht weiter und ist wohl gar so frech, der unbeweglich daliegenden Schlange unter den Leib zu laufen. Ein rasches Aufschnellen, ein hastiger Biß und die Beute ist zum Tod verwundet.

Eifrig folgt die Schlange dem schnell, meist schon vor Ablauf der nächsten Minute verendeten Thiere und nun beginnt das schwere Geschäft des Verschlingens. Wer sich diesen Anblick verschaffen will, braucht nur die noch häufiger vorkommende Ringelnatter zu fangen, sie in einen passenden Kasten zu thun und ihr nach Verlauf von etwa acht Tagen einen Frosch vorzusetzen, den sie bald, ungenirt vom zuschauenden Publicum, hinunterwürgt. Auch bei dieser Verrichtung offenbart die Schlange ihre im Widerspruch mit den übrigen Thieren stehende Eigenthümlichkeit. Von einer fröhlichen Mahlzeit, einer behaglichen Verdauung ist hier nicht die Rede. Das Verspeisen ist die anstrengendste Arbeit, welche sie überhaupt zu verrichten hat. Die Zähne, nicht zum Kauen, sondern nur zum Festhalten eingerichtet, lauter kleine, nach hinten gerichtete Häkchenreihen, nesteln sich abwechselnd in den kolossalen Bissen ein und schieben denselben langsam weiter und weiter in den Körper. Dabei erweitert sich der Rachen unförmlich und man bemerkt deutlich, wie jede Unterkieferhälfte für sich arbeitet. Beide Hälften sind auch nicht, wie bei andern Wirbelthieren, in knöcherner Verbindung, sondern haben zwischen sich nur ein sehniges Band, welches durch seine Biegsamkeit die Einzelbewegung der Unterkieferhälften ermöglicht. Während die eine Hälfte noch haftet, schiebt sich die andere weiter nach vorn und ergreift hier wieder ein Stück des Raubes, bis derselbe verschwunden ist. Nach dem stundenlangen Würgen zeigen sich in der gänzlichen Erschöpfung der Schlange alle Merkmale fürchterlicher Ueberladung. Sie ist stumpfer und gleichgültiger gegen ihre Umgebung als je. Ihre Sinneskräfte, die nie groß waren, sind auf ein Minimum herabgesunken. Den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_156.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)