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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

des Morgens und Nachmittags herunterwürgen zu müssen, und ich habe Manchen gesehen, bei dem derselbe ohne Weiteres den Weg zurücknahm, den er kurz zuvor gegangen. Da nimmt es freilich nicht Wunder, wenn oftmals in kürzester Zeit in dem Befinden des Patienten eine Krisis eintritt, auf die Lampe, Quartiergeber und Gast gleich stark, wie auf eine Verheißung, rechnen. In Goslar ist die Krisis das geworden, was beim Bäcker die Semmel ist; man mag jammern oder frohlocken – alle Welt fragt, und die Frage paßt auch auf alle Fälle: „haben Sie schon die Krisis gehabt?“

In den ersten Tagen der Cur erging es mir, gleich manchem anderen Patienten: die Hoffnung auf Heilung erweckte in mir Muth und Vertrauen. Der bis dahin finstere Blick belebte sich neu und wurde noch heiterer, als meine Gattin, nach überstandenem Wochenbette, als Trösterin zu mir eilte. – Wie erstaunte ich aber, als Lampe gleich bei dem ersten Besuche, welchen er meiner Frau abstattete, die Verordnung gab, daß auch sie den Kräutertrank genießen sollte; meinen Begleiter, dem er, wie fast aller Welt, versteckte Hämorrhoiden zudictirte, hatte er bereits zum Curgast gemacht, und selbst unser neugebornes Kind sollte von dem Safte nicht verschont bleiben. Wir mußten sammt und sonders purgirt werden, denn das Purgiren schwächt nicht, wie Lampe hoch und theuer versichert. Unser Kind blieb auf den von mir erhobenen und durch das Alter von erst sechs Wochen begründeten Protest von der Strafe des „Trinkens“ zwar verschont, es wurde dafür aber die Strafe der „Einreibung“ substituirt. Diese Einreibungen bilden einen wichtigen Theil der Lampe’schen Cur; sechs Mal in der Woche wird der ganze Körper des Patienten, besonders Rückgrat, Bauch und Brust, mit einer eigens dafür hergerichteten Fichtennadelsalbe stark und gehörig eingerieben. Dies Geschäft besorgt ein durch Lampe geschulter Curdiener, Namens Lentje, resp. dessen Frau.

Ich habe mich nicht überzeugen können, daß diese Einreibungen so ganz harmloser Art sind; die Salbe enthält Terpentin und kann zuweilen gefährliche Entzündungen hervorrufen. Eine Frau von K…e aus der Provinz Sachsen kam nach Goslar, um sich von rheumatischen Leiden heilen zu lassen. Die Einreibungen wurden forcirt, und bald stellten sich an einem Knie Entzündung und Geschwulst ein. „Hic haeret aqua“ hieß es nun für Lampe und der Physicus Dr. Müller wurde herbeigeholt. Lampe ersuchte diesen, die Geschwulst zu schneiden, Dr. Müller erklärte solches Beginnen für wahnsinnig, da sich die Rose eingestellt hatte. Herr von K., der seine Gattin mit einfachem Rheumatismus nach Goslar reisen ließ, erhielt sie von Lampe nur als – Leiche zurück. –

An einem Kinde von sechs Wochen, das wird mir Jeder zugestehen, der ein derartiges Geschöpf je genauer betrachtet, ist äußerst wenig einzureiben; ich glaubte den Wünschen meines Kindes, welches selbst noch unfähig zum Ausdruck derselben war, entgegen zu kommen, wenn ich um möglichste Schonung bat. Nach einiger Zeit ließ ich die Reibungen einstellen; das Kind bekam, wahrscheinlich vom Schreien dabei, einen Nabelbruch.

Es ist ein schöner Trost in dem alten Worte enthalten: „wer weiß, wozu es gut ist?“ Auch ich tröstete mich damit und lernte bald erkennen, daß alle Wege der Vorsehung zum Besten dienen. Das kranke Kind durfte ich nicht länger in Lampe’s Behandlung lassen, auch der Zustand meiner Frau gab zu mancherlei Bedenken Anlaß, ich selbst aber fühlte das Herannahen der Krisis, vor welcher ich eine unerklärliche Furcht hatte; so erbat ich mir denn ohne Zögern den Besuch des mir zunächst wohnenden Arztes, des Stadt-Physicus Dr. Müller.

Bevor ich nun näher auf mein Verhältniß zu genanntem Arzte eingehe, will ich noch in Kürze Kunde von dem geben, was ich bei Lampe zu der Zeit sah und hörte, als mein Vertrauen zu seiner Kunst noch nicht ganz erschüttert war. Der Leser wird dann begreifen, warum ich mit der Zeit auf einen wirklichen Arzt wie auf eine Verheißung wartete. –

Ich erlitt also alle Qualen der Cur in Geduld, auch selbst dann noch, als sich bereits sehr bedenkliche Erregtheit, Appetitlosigkeit und gänzliche Schlaflosigkeit eingestellt hatten. Während der Nacht mußte ich, so leid es mir that, den Schlaf meiner ruhebedürftigen Frau stören; sie mußte mich trösten und die Bedenken zerstreuen, welche nach und nach immer lebendiger vor meine Seele traten. Bei Tage besorgte dies Geschäft Herr Lampe; zu ihm nahm ich, so oft es nur anging, meine Zuflucht, theils allein, theils in Begleitung anderer Curgäste, um mir Trost zu erbitten. Ich fand denselben auch regelmäßig, theils in Gestalt eines kleinen Schnapses, theils in der bestimmten Angabe der Ursachen, welche störend auf den Heilungsproceß influirten. „Sehen Sie nicht,“ so begann Lampe auf meine Klagen nach der Wetterfahne zeigend, „daß wir Westwind haben“ – und ich war befriedigt. War es kein Westwind, so thaten Nord-, Ost- und Südwind dieselben Dienste, und war es ganz windstill, so mußten, unter andern Dingen, Neumond, erstes Viertel, Vollmond und letztes Viertel herhalten. War Lampe guter Laune, so nahm er zu der Zeit, als die eigentliche Saison noch nicht eröffnet war, mich und sämmtliche Patienten in seine Stube und erzählte uns von seinen Wundercuren.

Lampe nimmt, wie schon erwähnt, Jedermann in Behandlung, der nicht zahlungsunfähig oder vielleicht mit Ekel erregender, ansteckender Krankheit behaftet ist. Schwindsüchtige nimmt er recht gern auf; diese Patienten incommodiren ihn in der Regel nicht lange, er muß nur Acht darauf haben, daß er dieselben als „geheilt“ oder mit der Weisung, „in einiger Zeit wieder zu kommen“, aus Goslar jagt, bevor ihnen die Vorsehung den Weg in das Jenseits anweist. Bei Schwindsüchtigen läßt die Krisis nicht lange auf sich warten; der abscheuliche Trank, mit dem man im Stande ist, auch den verstocktesten Sündern die Seele aus dem Leibe zu purgiren, raubt dem Schwindsüchtigen die letzte Lebenskraft und beschleunigt sein Ende. – Bei Schwindsüchtigen vertritt Lampe in Wahrheit das Amt eines Nachrichters.

Es ist eine grobe Lüge, wenn Rolffs, der Biograph Lampe’s, erzählt, daß Lampe für jeden Kranken eine besondere Medicin bereite; er verfährt vielmehr ganz nach früheren Erinnerungen, indem er Alles über Einen Leisten schlägt. Purgiren schwächt nicht, der Stoffwechsel muß herbeigeführt, daher auch alle Welt purgirt werden, ob schwind- oder wassersüchtig. Lampe bezeichnet die Flaschen verschieden durch Kartenblätter, er holt sie auch, sobald die Cur im Garten begonnen, aus verschiedenen Abtheilungen hervor; es ist das Alles aber pure Gaukelei. Ich habe die Flaschen von Schwindsüchtigen, Zuckerkranken, Podagristen etc. gekostet; überall dieselbe Mixtur, bestehend aus Aloe, Faulbaumrinde, Rhabarber, Sennesblättern, Enzian, Ellernrinde, ja sogar gewöhnlicher Gerberlohe, wie auch der von Lampe fortgeschickte Apotheker angiebt.[1]

Wir sind im Mai; die Saison hat begonnen, der Verkehr ist bereits rege und wird täglich lebhafter. Es ist acht Uhr Morgens und die Zeit der Ausgabe des Kräutertranks gekommen; treten wir einmal ein in den Curgarten. Die ganze Anlage desselben ist hausgartenartig, klein und patriarchalisch, von den engen Laubgängen an bis zum Pavillon, der aus einer sommerlichen Theestube zum Orchestersitz umgeschaffen ist. Zweimal des Tages versammelt sich hier zur bestimmten Stunde eine fashionable Welt, Damen und Herren, um den dunkelbraunen Trank, täglich zwei große Flaschen voll, ernst und gewissenhaft bis auf die Neige zu leeren und sich die schlichten Weisen des deutschen Commersbuches: „Wo Muth und Kraft“, „Heute muß ich fort von hier“ etc., vorspielen zu lassen. – Da kommt er selbst, der Veranstalter dieser Komödie, en escarpins, den Schlafrock um den Leib, die unvermeidliche Mütze auf dem Kopf. Er hat seine Frau, Karoline, am Arm und promenirt mit dieser in dem kleinen, dicht vor dem Curhause gelegenen Hofraum, um den Curgästen einstweilen ein glückliches Eheleben vorzuführen. Die Nonchalance, mehr noch die Rücksichtslosigkeit Lampe’s hinsichtlich seines Anzuges, geht oft in’s Unglaubliche.

Einstmals verwies ihm die Gräfin von B…f diese Unziemlichkeit mit den Worten: „Herr Director! Wenn Sie wollen, daß ich und die übrige Damengesellschaft noch ferner Ihren Garten besuchen sollen, so bitten wir Sie, für die Zukunft in einem Costüm zu erscheinen, welches uns die Erfüllung Ihres

  1. Anweisung zur Bereitung des Lampe-Tranks und der Lampe-Tropfen nach Dr. H. Hager. Trank. Nimm auf ein Quantum von zwei Weinflaschen: Rhabarber ¼ Loth, Sennesblätter ½ Loth, Faulbaumrinde 1 Loth, Enzian, Cardobenedictenkraut, Wermuth, Tausendgüldenkraut von jedem 1/16 Loth, Ellernrinde 1 Loth. Geschnitten wird alles mit drei Pfund Wasser aufgekocht und dann das Flüssige durchgeseiht. Wenn man will, setzt man dazu Glaubersalz und Bittersalz, von jedem ½ Loth.
    Tropfen. Nimm Faulbaumrinde 3 Loth, Rhabarber 3 Loth, Enzian, Cardobenedicten, Wermuth, Tausendgüldenkraut, Galgant, von jedem ½ Loth. Diese Substanzen zerschnitten koche mit 1¼ Pfund Wasser eine Viertelstunde, seihe und presse die Flüssigkeit aus und versetze sie mit ¼ Pfund Spiritus.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_169.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)