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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

kann weder aus dem veralteten Spiritualismus, noch aus dem modernen Materialismus hervorgehen. Beide führen, so scharfe Gegensätze sie auch sind, in ihrer Consequenz zu demselben Resultat, sie machen den Menschen zum willenlosen Sclaven oder vielmehr zur Marionette einer ihm außerweltlichen Macht, sie machen ihn zum Fatalisten. Die wahre Religion kann nur das Kind der sittlichen Freiheit sein. Diese wird blos durch den freien Willen gewonnen und der freie Wille ist das Product der ernsten, anhaltenden ethischen Arbeit. Nur wer durch die strenge Schule der sittlichen Thätigkeit gegangen ist, hat freien Willen, sittliches Selbstbewußtsein, wahre Religion. Es ist die Hauptaufgabe der zukünftigen Erziehung, das Volk von Jugend auf zur sittlichen Arbeit anzuhalten, alle Individuen ohne Ausnahme daran zu gewöhnen.

Eduard Baltzer.

Am klarsten und überzeugendsten hat Baltzer diese Ideen, insbesondere die Aufhebung des bisherigen Gegensatzes von Spiritualismus und Materialismus in seine höhere Einheit, ausgeführt in seinem trefflichen Buche: „Die neuen Fatalisten des Materialismus“, worin er für die sittliche Freiheit des Willens sowohl gegen die junge Schule des Materialismus, als auch gegen die alte der Orthodoxie kämpft. Die praktische Anwendung der gewonnenen, den Menschen durch die Idee der Freiheit adelnden Ueberzeugung hat er in seinem nicht genug zu lobenden Buche: „Von der Arbeit oder die menschliche Arbeit in persönlicher und volkswirthschaftlicher Beziehung. Nordhausen, Förstemann 1864“ in höchst anziehender Weise gegeben. Dieses Buch ist unserer Meinung nach die Blüthe der Gesammt-Geistesthätigkeit Baltzer’s. Hier tritt er gleich bedeutend als Prediger der wahren Religion, als Philosoph und als Volkswirth auf. Dieses Buch bildet den Schlußstein des ganzen philosophisch-religiösen, praktisch-socialen Zukunftsgebäudes, welches Baltzer in seinen übrigen Schriften seit zwanzig Jahren allmählich aufgebaut hat, und wir, können nun das ganze eben so wissenschaftlich streng construirte, wie anmuthig ausgeführte und mit poetischem Schmuck überkleidete Gebäude überschauen.

Im Buche „Von der Arbeit“ liefert Baltzer den schönen Beweis, daß die Durchgeistung d. h. Beglückung des wirklichen praktischen Lebens das letzte und höchste Ziel der Religion sein soll. Freilich eine spiritualistische Religion kann dieses Ziel nicht erreichen, so wenig wie die extremen Richtungen des Materialismus; die Aufgabe kann nur in einem höhern Stadium des Geistes vollständig gelöst werden, in der Religion der Alleinheit, deren würdiger und begeisterter Priester unser Baltzer ist. Man muß das herrliche Buch lesen, um zu der tröstlichen Ueberzeugung zu kommen, daß der Zukunftsbau des gesellschaftlichen Lebens, wenn er allen Betheiligten Glück und Wohlfahrt gewähren soll, nur auf dem festen Grunde dieser freien Religion errichtet werden darf. Von solchem Grunde führt Baltzer als gewandter und genialer Baumeister das ganze Gebäude der Gesellschaft in soliden Formen mit Geschmack und Verständniß auf. Es ist eine ungemein wohlthuende und versöhnende Klarheit in diesem Buche, das man eine Apotheose der Arbeit nennen möchte.

Baltzer’s Religion ist ein über allen Erscheinungsformen des Spiritualismus und seines Gegensatzes, des Materialismus, erhabenes und diese Gegensätze in ihrer höhern Einheit erfassendes Bewußtsein, Ewiges und Endliches versöhnend und verschönend und durchleuchtet, durchwärmt und überglänzt vom Sonnenstrahle der Poesie. Denn das müssen wir endlich noch aussprechen, daß Baltzer seiner innersten Natur nach Dichter ist, aber ein Dichter der wahren Naturerkenntniß, nicht des „holden Scheins“, sondern des wirklichen Seins, mit Einem Worte, ein Dichter, und Weiser der Zukunft, der im Brennpunkt der Poesie alle Lebensstrahlen vereinigt, so die Geistesflamme entzündend, welche die nach uns kommende Menschenwelt erleuchten, befruchten, beleben wird. Und so schließt er sich auf die würdigste Weise seinen großen Lehrern Giordano Bruno, Schleiermacher, Alexander von Humboldt an.[1]

Die Religion der Zukunft, die Baltzer verkündet und zur Grundlage des socialen Aufbaus der Arbeit gemacht wissen will, jene höhere Religion, zu der sich heute schon alle begabten ehrlichen Menschen, auf welcher Stufe der Gesellschaft sie auch stehen mögen, innerlich bekennen, bezeichnen wir am besten mit seinen eignen Worten:

„Die Ahnung des Ewig-Einen in allem Endlichen ist in des Menschen Brust seine – Religion, sein Glaube, vom ersten Erzittern der Furcht und der Wonne bis hinauf zur Weisheit, in der, wie überm Monde, ein ewig heitrer Himmel glänzt. –

„Ob Stoff, ob Geist das A und O aller Dinge sei, dieser unklare Nachhall alten Glaubens, ist dann keine Frage mehr, welche die Geister verwirren und entzweien könnte. Eine Allwesenheit offenbart sich uns dann in Allem. Wir weihen ihr keine Tempel mehr von Menschenhänden gebaut, ihr tönen keine Lippengebete, und mit keinem Opfer erkauft man ihre Gunst, aber sie lebt und webt in seligen Menschenseelen; das All ist ihr Tempel, das Menschenherz ihr Allerheiligstes, und wo zwei oder drei Herzen schlagen in ihrem Namen, da ist sie in ihnen als Gottseligkeit. Die Geister eilen mit Macht diesem Evangelium entgegen.“

Es ist begreiflich, daß ein so vielseitig gebildeter Theolog, welcher der alten Theologie und dem Kirchenglauben überhaupt so entschieden entgegentritt, wie unser Baltzer, von den Vertretern dieser Wissenschaft und dieses Glaubens, hinter welchen heute noch die Staatsgewalt steht, nicht zum freundlichsten angesehen, nicht collegialisch-brüderlich behandelt wurde und daß deshalb sein Leben ein vielbewegtes sein mußte. Die „streitende Kirche“ ist sich zu allen Zeiten gleich geblieben.

Baltzer ist in dem preußischen Dörfchen Hohenleina, nur wenige Stunden nordöstlich von Leipzig, am 24. October 1814 als der jüngste Sohn des dortigen Pfarrers geboren, hat also sein einundfünfzigstes Jahr überschritten. Sein bewegtes, selbst

  1. Baltzer’s reiche poetische Begabung hat sich besonders in seinen eben so tief gefühlten wie sprachgewandten Liedern im „Gesangbuch der freien Gemeinde zu Nordhausen“, wie in seiner Schrift „Aus dem Evangelium“ (wegen des milden Geistes und der schönen Form vorzüglich Frauen zu empfehlen!), sowie endlich in der Liedersammlung „Aus der Edda“, dargelegt. Diese Bücher enthalten Perlen der Poesie vom höchsten Werth, und Vieles darunter hat daher bereits seinen Componisten gefunden.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_172.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)