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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Hast und Unruhe. Es schien ihm offenbar daran zu liegen, die vorangegangene Gesellschaft so schnell wie möglich zu erreichen. Sein Blick eilte stets weit voraus und drang nach allen Richtungen hin in das Gebüsch; nur wenn der Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne auftauchte, dann blieb er einen Augenblick stehen, als wolle er beobachten.

„Nein, Sie sind doch zu langweilig, Hollfeld! Langweilig bis zum Sterben!“ rief die Hofdame ärgerlich. „Sie haben zwar das Privilegium, stumm zu sein wie ein Fisch, um dabei doch für einen geistreichen Mann zu gelten … wo ich aber in diesem Moment Ihren Geist suchen soll, weiß ich wahrhaftig nicht … Weshalb, um Gotteswillen, rennen Sie denn so? … Und denken Sie, wenn ich bitten darf, doch an mein nagelneues Kreppkleid, das aller Augenblicke an den Büschen hängen bleibt, an denen Sie mich vorbeizerren wie ein armes Schlachtopfer!“

Der sogenannte Nonnenthurm, das einzige standhafte Ueberbleibsel eines ehemaligen Frauenklosters, lag tief versteckt in einem Eichen- und Buchenforst, auf dem Waldgebiet, das, zu dem Gut Lindhof gehörig, sich meilenweit nach Osten hin erstreckte. Er stieg viereckig, plump und schmucklos in die Höhe. Droben auf dem platten Dach, das eine steinerne Galerie umgab, endete die Treppe in einem engen, viereckigen Raum, den eine schwere Eichenthür verschloß. Von dem Plateau aus genoß man eine reizende Fernsicht nach L. Diesem Vorzug hatte wohl hauptsächlich der Thurm sein durch aufbessernde Menschenhände gefristetes Dasein zu verdanken. Mächtige Eisenklammern umschnürten die Ecken, und zahllose Adern frischen Mörtels ringelten sich durch das geschwärzte Gemäuer, so daß der alte Bau von Weitem aussah, wie ein riesiger Malachit.

Heute aber hatte sich der alte Bursche ausstaffirt, wie ein junges Blut, das auf die Wanderschaft gehen will. Frische Reiser, d. h. vier kräftige Tannenbäume, steckten auf seinem alten Hut, und darüber her wehten ungeheure Fahnen und schwammen wie helle Schwäne über den grünen Wogen der Baumwipfel. Er, der zwar bisher Tag und Nacht ein trautnachbarliches Gespräch mit seinen alten Cameraden, den Eichen, geführt hatte, nie aber auch nur fingerbreit von seinem würdevollen Standpunkt aus ihnen entgegengerückt war, er griff heute mit grünen Armen keck an ihr ehrwürdiges Haupt, es waren lange Guirlanden an den Mauern befestigt, deren anderes Ende unter den Zweigen der Bäume verschwand. Sogar ein langes, weißes Taschentuch hing dem jung gewordenen Springinsfeld aus der Tasche. Die beiden freien Zipfel des Tuches waren stramm an zwei mit Laubwerk bekleideten Tannenstämmen befestigt; es beschützte einige Fäßchen, eine ganze Batterie bestaubter, rothgesiegelter Bouteillen, zahllose Flaschen mit silbernen Köpfen in Eiskübeln und ein neben all’ diesen Herrlichkeiten stehendes hübsches Mädchen in Marketender-Costüm vor den Sonnenstrahlen…

Elisabeth hatte willenlos und schweigend an Herrn von Walde’s Arm den Saal verlassen. Sie hatte, trotz der Ueberzeugung, daß sie gehen müsse, nicht den Muth gefunden, ihm zu widersprechen, zu sagen, daß sie bei ihrem Entschluß beharre. Er hatte in einem so gebietenden Ton gesprochen, und – was ihr zumeist den Mund verschloß – er war für sie in die Schranken getreten und hatte ihr offenbar aus der Verlegenheit helfen wollen; jeder Widerspruch hätte in jenem Moment wie Trotz aussehen müssen, auch wäre durch eine Entgegnung ihrerseits das peinliche Aufsehen erhöht worden, dessen Gegenstand sie ohnehin schon geworden war.

Hinter ihr streiften knisternd die seidenen Gewänder der Damen an die Wand des Corridors. Lachend und plaudernd folgte der Menschenschwarm in langem Zuge Herrn von Walde bis vor das Hauptthor, dann aber stob Alles auseinander und begab sich auf die verschiedenen Waldwege, die nach dem Nonnenthurm führten. Viele, die besondere Toilettenrücksichten zu nehmen hatten, blieben auf dem breiten, gut gehaltenen Fahrweg. Herr von Walde hatte sicher keine Ahnung, daß seine Begleiterin ihr selbstgewaschenes und gebügeltes Mullkleid mit ebenso ängstlichem Auge behütete, wie die anderen Damen ihre theuren Toiletten, sonst würde er sie sicher nicht auf den schmalen, wenig betretenen Weg geführt haben, in den er plötzlich einbog.

„Hier ist es gewöhnlich sehr feucht,“ brach Elisabeth mit schüchterner Stimme das Stillschweigen, denn es war bisher kein Wort zwischen ihnen gefallen. Ihr Fuß zuckte, als habe er die größte Lust, zurück statt vorwärts zu gehen. Vielleicht dachte sie aber auch in diesem Augenblick gar nicht an ihr Kleid und ihre dünnen Schuhe und sah nur den engen, grünen Laubgang vor sich, durch den sie mutterseelenallein mit ihm gehen sollte, hörte bebend schon im Geiste seine Stimme, die plötzlich rauh, ungeduldig und herrisch wurde, denn das war ja stets der Fall, wenn er sich mit ihr allein sah.

„Es hat lange nicht geregnet; sehen Sie die Risse und Sprünge in dem trockenen Boden?“ entgegnete er ruhig weiterschreitend und einen Zweig abknickend, der Elisabeth’s Wange bedrohte. „Wir kommen auf diesem Weg schneller vorwärts und haben den Vortheil, auf eine Viertelstunde dem Geschnatter zu entgehen, das meine Verwandten zur Verherrlichung meiner siebenunddreißig Jahre heraufbeschworen haben… Oder fürchten Sie in dieser engen Gasse Linke’s Begegnung?“

Ein Schauder flog durch die Glieder des jungen Mädchens. Sie dachte an das verzweiflungsvolle Ende des Verbrechers, aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, Herrn von Walde diese Mittheilung zu machen.

„Ich fürchte ihn nicht mehr!“ sagte sie ernst.

„Er hat auf alle Fälle die Gegend verlassen, und wenn nicht, nun, so wird er doch nicht so unhöflich sein, den Leuten die Freude zu verderben, die sich nun auch für die gehabte Anstrengung des Glückwünschens amüsiren wollen… Apropos, es wird Ihnen nicht entgangen sein daß ein Jedes aus der Gesellschaft mir heute einen Augenblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, selbst das jüngste Gänschen im florenen Flügelkleide hat nicht versäumt, mir seinen huldigenden Knix zu machen und einen einstudirten Glückwunsch herzusagen… Sie halten mich wohl noch nicht für alt genug, um mir ein noch längeres Leben zu wünsche?“

„Ich meine, diesen Wunsch kann man der Jugend und dem kräftigen Lebensalter so gut aussprechen, wie den greisen Menschen; denn jene haben eben so wenig ein Monopol für die Lebensdauer wie diese.“

„Nun, warum kamen Sie dann nicht auch zu mir? … Gestern retten Sie mir das Leben, und heute ist es Ihnen so gleichgültig, daß Sie nicht einmal die Lippen öffnen und sagen mögen: ‚Gott beschütze es auch ferner.‘“

„Sie sagten vorhin selbst: ‚Jedes aus der Gesellschaft,‘ ich gehörte aber nicht zu der Gesellschaft und durfte mich deshalb auch nicht in die Reihen der Glückwünschenden drängen.“ Sie sprach hastig, denn schon grollte es in seiner Stimme, und er machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Arm, auf welchem ihre Hand lag.

„Sie waren doch eingeladen –“

„Um die Eingeladenen zu amüsiren.“

„War diese bescheidene Ansicht einzig und allein der Grund, weshalb Sie vorhin nicht mir gehen wollten?“

„Ja, meine Weigerung galt durchaus nicht dem Herrn, dessen Name mir ja völlig unbekannt war.“

„Das machen Sie mir nicht weis, Sie mußten ja auf den ersten Blick sehen, daß bereits sämmtliche Herren – mich ausgenommen – versagt waren. Sie wußten sogar, daß meine Schwester, ohne ein Papier zu ziehen, sich schon vorher Hollfeld’s Begleitung ausgebeten hatte, weil sie an seinem Arm am sichersten geht. – Gestehen Sie!“

„Ich sah und wußte gar nichts… Ich war viel zu aufgeregt, als ich in den Saal trat, um das Papier zurückzugeben; denn man hatte mir gestern ganz bestimmt die Stunde genannt, zu welcher mir gestattet sein würde, nach Hause zu gehen. Daß nach dem Concert irgend welche Festlichkeit folgen könne, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht; mit der Annahme der kleinen Papierrolle habe ich mir eine Gedankenlosigkeit zu Schulden kommen lassen, die ich mir nie verzeihen werde.“

Er blieb plötzlich stehen.

„Sehen Sie mich einmal an!“ sagte er gebieterisch.

Sie hob das Auge, und obgleich sie fühlte, daß eine hohe Röthe in ihr Gesicht stieg, hielt sie seinen Blick doch aus, der zuerst flammend auf ihren Zügen ruhte, dann aber in einem unbeschreiblichen Ausdruck schmolz.

„Nein, nein,“ flüsterte er mehr wie für sich mit weicher Stimme, „es wäre Sünde, hier an das abscheuliche Laster, die Lüge, zu denken… Ja, doppelte,“ fuhr er in gänzlich verändertem, sarkastischem Ton fort – es klang fast, als wolle er seine momentane Weichheit persifliren – „habe ich nicht selbst als unfreiwilliger

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_182.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)