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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Bah! bah!“ sagte Cazotte. „Ich bin kein Prophet! Ueber dem Haupte der Propheten schweben Kronen, Strahlen, Sterne, vor den Propheten bücken sich die Thiere, es sind fleckenlose Menschen, die im Traum auf Leitern emporsteigen und die tiefsten Geheimnisse des Schöpfers sehen und hören. Ich bin nur der alte Cazotte, den die Menschen bestehlen, prellen und verlachen. Ich kann wohl, wenn ich schwarze Wolken am Himmel sehe, sagen: das giebt ein tüchtiges Wetter, das manchen Baum entwurzeln und manche Schindel vom Dache tragen wird, doch wenn ich die einzelnen Bäume, die fallen sollen, und die einzelnen Schindeln mit Kreide bezeichne, da mögt Ihr mich wohl für unzurechnungsfähig halten. Uebrigens, fürchtet Ihr den Sturm, erschrecken Euch meine Worte, warum macht Ihr Euch nicht auf und davon? Wozu sonst hättet Ihr Beine?“

„Sie erinnern sich doch,“ meinte Condorcet, „daß Sie sich selbst in der nahenden Katastrophe ein gewaltsames Ende ankündigten. Folgerichtig sollten auch Sie dem Verhängnisse auszuweichen suchen.“

„Das thue ich auch!“ erwiderte der Alte. „Ich sehe Paris sobald nicht wieder. Der Sturm, der Euch Andere erquickt, nimmt mir den Odem, daher verstecke sich mich. Adieu, Freund, adieu auf lange!“

Er eilte so rasch, wie die alten Glieder es zuließen, davon.

Das Jahr verging in wilder Aufregung. Aber nach der Erstürmung der Bastille und der Uebersiedelung des Hofes von Versailles nach Paris kehrte eine verhältnißmäßige Ruhe ein und Paris blieb fast zwei Jahre von blutigen Auftritten frei.

Die Nationalversammlung regierte. Sie hatte den Erbadel abgeschafft, Wappen und Livreen proscribirt, die Güter der Kirche als Nationaleigenthum eingezogen. Da starb Mirabeau, die geheime Stütze der Monarchie. Der König, der sich durch seinen Fluchtversuch aus der Gewalt der Assemblée zu befreien versucht, hatte seine Lage damit nur verschlimmert. Er war thatsächlich, wenn auch nicht eingestanden, ein Gefangener.

Der constituirenden Versammlung war die gesetzgebende gefolgt. Die Girondisten, Anhänger des Königthums, und die Jacobiner standen sich gegenüber; der Hof erwartete, um die Revolution niederzuschlagen, das Einschreiten der fremden Mächte. In dieser Zeit hatte Cazotte, der ganz zurückgezogen auf seinem Landgute unfern Epernay lebte, den unglückseligen Einfall, seine Gedanken, wie der Fortgang der Bewegung wohl zu hindern sein dürfte, seinem Freunde Pontrau, dem Secretair der Civilliste, mitzutheilen.

Es war acht Tage nach dem Sturme auf die Tuilerien, am 10. August, als bewaffnete Männer an Cazotte’s Thür klopften und ihm hießen, ihnen zu folgen. Sein Brief an Pontrau, das unselige Blatt, war im Bureau des Königs aufgefunden worden. Man brachte den Greis zuerst in das Gefängniß von Epernay, dann nach Paris. Seine Tochter folgte ihm.

Wie fand Cazotte Paris wieder, als er es passirend durch die vergitterten Fenster des Gefangenwagens blickte! Auf dem Stadthause und von den Thürmen der Notre Dame wehte die schwarze Fahne, als Banner des Bürgerkrieges. So hell die Sonne auch flammte, die Straßen öde, wie ausgestorben, kein Wagen zu sehen, Fenster und Thüren verschlossen, die Menschen in Kellern versteckt! Von Zeit zu Zeit Züge bewaffneter Horden, Marseiller und Brester mit Piken und Trommeln, das „Ça ira“ oder die Marseillaise spielend. Der Schrecken!

Die Nachricht von der Einnahme von Longwy und Verdün, die Nähe des Feindes, der Verrath in der eigenen Armee, der Aufstand in der Vendée, die Agitation der Emigranten, die Auflösung der Assemblée – das Alles zusammen hatte die Sachen so weit gebracht. Frankreich schien der Auflösung nahe. In diesem Chaos stand nur noch die „Commune“ von Paris aufrecht, Danton regierte. Seine Losung war: man müsse die Gefängnisse säubern, den Verräthern ein Ende machen und freien Rücken haben, wenn man an die Grenze marschire.

Die Gefangenen erfuhren erst nach und nach, was ihrer wartete. Zwölf Blutmenschen saßen in der Abbaye St. Germain um einen Tisch, wo Acten und Waffen durcheinander lagen. Maillard, die Feder in der Hand, den Säbel zur Seite, präsidirte. Die Gefangenen wurden einzeln vorgeführt, jedem waren nur wenige Minuten zur Vertheidigung gestattet. Wurde Einer schuldlos erkannt hieß es: „Wird freigelassen“ (qui’ on élargisse Monsieur). Wurde er verurtheilt, so hieß es: „à la Force!“ Man stieß den Unglücklichen einfach in den Hof, wo beim Schein der Fackeln die Henkerschaaren standen, die das Opfer niederstießen oder niederschossen.

Cazotte’s Name war doppelt markirt. Er verschmähte es auch, sich zu vertheidigen. „A la Force!“ hieß es und er wurde hinausgestoßen.

In diesem furchtbaren Augenblicke warf sich die Tochter über den Verurtheilten her, schlang ihre Arme um ihn und rief den Henkern zu: „Ihr werdet das Herz meines Vaters nicht durchbohren, ohne vorher das meinige zu treffen!“

Beim Anblick der holden, jugendlichen Erscheinung senkten sich die erhobenen Waffen, das Volk rief: „Gnade! schont sie!“ und die Henker ließen ihr Schlachtopfer los.

Außer sich vor Freude, führt die Tochter den geretteten Greis davon und hinaus ging es aus dem entsetzlichen Hof über Leichen und durch breite Lachen Blutes. Es war ein Bild, wie wenn Ophelia ihren Vater davonführt. War das ein Jubel! Das Kind hatte den Vater, der Vater sein Kind wieder!

„Wer sind Deine Feinde?“ fragte ein Marseiller den Alten. „Nenne sie uns, sie sollen es büßen!“

„Ach,“ erwiderte Cazotte, „wie sollte ich Feinde haben? Habe ich doch Niemandem etwas zu Leide gethan!“

Es schien, als habe seine Prophezeiung Unrecht gehabt: er war frei. Aber die Richter der damaligen Zeit waren noch entsetzlicher, als die Septembristenhorden. Auf Befehl Pethion’s wurde Cazotte neun Tage später abermals verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Seiner Tochter wurde der Eintritt dort nicht gestattet.

Im Verhör antwortete Cazotte diesmal mit der größten Gelassenheit und einer überlegenen Ironie. Er erklärte, daß ihn das Volk schon einmal freigesprochen habe und daß man der Volkssouveränetät Hohn spräche, wenn man ihn derselben Sache wegen zum zweiten Male zur Verantwortung ziehe.

Auf diese Einwendung wurde kein Gewicht gelegt. Als das Todesurtheil ausgesprochen war, sagte der öffentliche Ankläger: „Warum muß ich Euch nach einem zweiundsiebenzigjährigen Leben strafbar finden? Aber es genügt nicht, ein guter Sohn, Gatte und Vater, man muß auch ein guter Bürger sein.“

Indeß war die Tochter – es steckte etwas von einer Charlotte Corday in ihr – unermüdlich in ihren Versuchen, den Vater zum zweiten Mal zu retten. Sie hatte eine Schaar von Weibern zusammengebracht, die ihre Bitten bei den Richtern unterstützen sollten, doch ehe sie noch ihren Zweck erreichen konnte, wurde sie von den Schergen Pethion’s ergriffen und in’s Gefängniß geführt.

Der Alte, im Begriff, auf’s Schaffot zu steigen, verlangte Feder und Papier und schrieb: „Mein Weib, meine Kinder, beweint mich nicht, aber vergeßt mich auch nicht.“ Auf dem Blutgerüst, das er festen Fußes betrat, ließ er sich sein weißes Haar abschneiden, legte es zusammen und bat, es seiner Elisabeth einzuhändigen; dann, sich zu dem versammelten Volke wendend, sagte er: „Ich sterbe, wie ich gelebt, Gott und dem Könige treu!“ Einen Augenblick später war sein Haupt gefallen.

So starb Cazotte, der Dichter der Feenmärchen, der Dichter des diable amoureux. Bei ihm war die Prophezeiung zuerst eingetroffen. Bald darauf ging sie auch am König von Frankreich in Erfüllung, der in der That das letzte Opfer war, dem man einen Beichtvater mitgab; an der Herzogin von Gramont, welche wirklich, die Hände auf den Rücken gebunden, zum Schaffot fuhr; endlich kamen Roucher, Bailly und Malherbes an die Reihe. Wie aber erging es Condorcet und Chamfort, denen er in einem Augenblicke seltsamer Ekstase geweissagt, daß sie, um dem Henker zu entgehen, selbst an sich Hand anlegen würden?

Condorcet war der Sache der Revolution treu geblieben. Er hatte nach dem 10. August die Adresse an die Mächte Europas abgefaßt, worin die Gründe für die ausgesprochene Suspendirung des Königthums dargelegt wurden. Als Mitglied der Nationalversammlung hatte er mit den Girondisten gestimmt, und im Convent, als dieser über Ludwig den Sechzehnten zu Gericht saß, die härteste Strafe, welche nicht die Todesstrafe wäre, beantragt.

Als Mitglied des ersten Wohlfahrtsausschusses hatte er einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, den man anzunehmen im Begriff stand, als der Aufstand vom 31. Mai ausbrach und den Sieg

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