Seite:Die Gartenlaube (1866) 209.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 14.   1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Aus dem Tagebuche eines Arztes.
1. Die Enthüllung des Trepanirten.


Einer meiner Patienten war ein wohlhabender Gutsbesitzer in der Nähe der Stadt, den ich mit Verschweigung seines eigentlichen Namens „Brand“ nennen will. Derselbe hatte sich erst kurze Zeit in der Gegend niedergelassen und führte ein höchst zurückgezogenes und einsames Leben, da er ein entschiedener Sonderling war und zum Theil deshalb von allen seinen Nachbarn gemieden wurde. Es ließ sich auch in der That nicht leugnen, daß seine ganze Erscheinung einen unheimlichen Eindruck machen mußte. Man denke sich einen großen, mageren Mann mit einem starken Kopf, der über und über mit struppig rothen Haaren bedeckt war, während sein Gesicht durch eine große Narbe entstellt wurde. Diese auffallende Häßlichkeit wurde keineswegs durch sein Benehmen gemildert, da er in seinem ganzen Wesen etwas Rauhes, Eckiges und Menschenscheues hatte. Ich selbst konnte mich des allgemeinen Vorurtheils nicht erwehren, obwohl er mir in der Unterhaltung als ein gebildeter und wohlwollender Mann erschien.

Dieser häßliche, fast widrig zu nennende Gutsbesitzer hatte merkwürdigerweise eine der schönsten und liebenswürdigsten Frauen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Sie war eine jener sanften Blondinen mit goldenen Haaren und blauen Taubenaugen, aus denen die angeborene Herzensgüte strahlte. Ihre Bewegungen waren voll natürlicher Grazie, ihre Sprache klang wie Musik und ein eigenthümlich süßes Lächeln verlieh ihr einen bezaubernden Reiz. Ihr Gatte trug sie, wie ich beobachtete, auf Händen und bewahrte sie wie seinen Augapfel. Ich selbst war öfters Zeuge seiner Unruhe und Verzweiflung gewesen, wenn sie auch nur über das Geringste klagte. Jeder ihrer Wünsche war ihm ein Befehl, und während er gegen alle Welt zurückstoßend und herzlos erschien, zeigte er ihr gegenüber die innigste Liebe, die aufopferndste Hingebung. Auch sie war, so weit ich bemerken konnte, dankbar und voll Anerkennung für seine Zärtlichkeit und zufrieden mit ihrem Loose, obgleich ich mir darüber kein Urtheil zutraute, da das Herz einer Frau selbst dem erfahrensten Arzte ein ewig verschlossenes und unergründliches Räthsel bleibt.

Da sie öfters kränkelte, so wurde ich zu Rathe gezogen, bei welcher Gelegenheit ich sie kennen lernte. Ihre häufigen Leiden waren nervöser Natur, und ich rieth ihr deshalb mehr Bewegung in der freien Luft und Zerstreuung.

„Wo denken Sie hin, lieber Doctor!“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme. „Mein Mann liebt die Gesellschaft nicht.“

„Aber ich halte es für nothwendig, daß Sie mit Menschen mehr verkehren. Die Einsamkeit nährt nur Ihre Hypochondrie und steigert Ihre Krankheit. Ich werde deshalb mit Herrn Brand sprechen.“

„Thun Sie das nicht!“ bat die reizende Frau. „Sie werden ihn nur besorgt machen und betrüben.“

Trotzdem ließ ich mich nicht abhalten, meine Pflicht zu thun, indem ich ihm vorstellte, wie nothwendig einige Zerstreuung für die leidende Frau sei.

„Wenn Sie dazu rathen,“ sagte er mit mehr Fassung, als ich ihm zutraute, „so soll es meiner Frau nicht an der nöthigen Gesellschaft fehlen, obgleich ich, offen gestanden, kein Freund derselben bin. Dennoch werde ich das Opfer bringen und mit ihr einige Besuche in der Nachbarschaft machen und auch zuweilen mit ihr in die Stadt fahren.“

Dies geschah auch, wie ich erfuhr, und die Welt war nicht wenig erstaunt, als der menschenscheue Sonderling mit seiner schönen Frau hier und da eine nachträgliche Visite machte und Bekanntschaften in der Umgegend mit den andern Gutsbesitzerfamilien anknüpfte. So angenehm und liebenswürdig man aber seine reizende Gattin fand, so wenig fühlten sich die Leute zu ihm hingezogen, da er auch im persönlichen Verkehr den Eindruck seiner widrigen Erscheinung nicht zu verwischen vermochte. Trotzdem fanden sich einige Familien, mit denen Herr Brand in eine Art von freundschaftlichem Verkehr trat. Zu diesen gehörte vor allen eine verwittwete Generalin von Tannenberg, welche seine nächste Nachbarin war und die eine wirkliche Neigung für die sanfte Frau des Gutsbesitzers faßte und deshalb den ihr keineswegs zusagenden Mann gleichsam mit in den Kauf nahm.

Auch hier bewährte sich die Macht der Gewohnheit, indem die alte, ebenso gutmüthige wie fein gebildete Dame mit der Zeit den abstoßenden Sonderling ganz erträglich fand und sich gern mit ihm unterhielt, da er in der That gut unterrichtet war und es ihm nicht an Geist mangelte. Sie hörte jetzt auch auf, die sanfte Frau zu bedauern, um so mehr, als diese mit der größten Achtung und selbst mit Liebe von ihrem Manne sprach.

Die Generalin besaß einen einzigen Sohn, der als Officier in der Residenz seit Jahren lebte. Sie liebte ihn mit der größten Zärtlichkeit, obgleich der junge Herr ihr durch sein tolles und wüstes Leben schon manche trübe Stunde verursacht hatte. Er galt für einen der schönsten, aber auch der übermüthigsten Roués der Hauptstadt und war wegen seiner galanten Abenteuer allgemein verrufen. Wie ich hörte, war er in Folge eines neuen Streiches nahe daran gewesen, seinen Abschied zu erhalten. Seine Mutter war jedoch nach der Residenz geeilt und hatte durch ihre Fürbitten das ihm drohende Geschick noch abgewendet. Um ihn den schädlichen Einflüssen der Hauptstadt und dem Schauplatze seiner bisherigen Abenteuer zu entziehen, sollte er nach einer andern

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_209.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)