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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Dies wurde von Menschenfreunden erkannt und führte zur Gründung von „freien Nachtherbergen“ (Night Refuges) in London. Ihre Zahl ist noch sehr klein – drei oder vier. Die in den beifolgenden Abbildungen dargestellte ist die zweitgrößte im Süden von London, wo die Armen dichter beieinander wohnen, als Bienen in einem Korbe. Diese eine Nachtherberge hat in einem einzigen Jahre nicht weniger als 75,000 Obdachlosen den „Schlaf“ beschert und einen Trunk und ein Stück Brod eine Woche lang oder zwei hintereinander und dann nach gewissen Pausen wiederum eine Woche lang oder zwei, während die Einen den Andern Raum machen mußten. So und so oft Schlaf, Brod und Trank – eine Woche lang oder zwei unter den zweiundfünfzig Wochen des langen Jahres – das spielt eine große Rolle in den Gedanken Derer, die hülflos, schutzlos, obdachlos in London!

Es ist ein langes düsteres Haus in einer düstern Straße im düstern London. Aber so sehen fast alle Häuser aus an einem Februar-Abend um sechs Uhr, wenn das Tageslicht schon zwei Stunden vorher von den Gasflammen abgelöst worden. So früh wird Zulaß zu dieser Herberge gegeben und offenbar in weisester Absicht. Das Vagabundiren bei sinkender Nacht und später wird dadurch so Manchen verleidet, weil sie keinen Raum, keine Schlafstätte mehr unter dem gastlichen Dach finden würden, meldeten sie sich nicht frühzeitig. Schon um sieben Uhr ist fast Alles besetzt, was an Lagerstätten vorhanden; um acht Uhr bieten nur noch die Bänke an den Wänden eine Stätte und Nachzügler haben sich über dieselben zu strecken.

Schon lange vor der sechsten Abendstunde sammeln sich Gruppen von Wartenden, zumeist dem weiblichen Geschlechte angehörend, vor dem Eingange, Alte und Junge, Kinder und Säuglinge in der Mutter Arm. Diejenigen, welche „daran gewöhnt“, drängen sich dicht an die Thür, aber Andere, die vielleicht diesen Schritt zum ersten Male thun, halten sich in größerer Entfernung, an Laternenpfählen lehnend oder auf der andern Seite der Straße wartend, als gehörten sie nicht dazu. Einzeln passiren sie durch die Thür in einen kleinen Raum, der zur Nachtzeit als Remise für einen kleinen Schauwagen dient, aus welchem zum Besten des Instituts bei Tage vor der Thür der Herberge religiöse Bücher an die Vorübergehenden verkauft werden. Der Beamte des Hauses, ein Mann, dem Geduld und Milde auf dem Gesicht geschrieben stehen, liest die Gesichter bei jedem Eintritt, um zu sehen, ob keine Unberufenen darunter, d. h. keine, welche öfter, als verstattet, sich zur Aufnahme melden und durch solchen Mißbrauch Andere um ihre Reihe betrügen wollen. „Ich irre mich selten im Wiedererkennen,“ versicherte mir der Inspector. „Das Auge wird scharf und tief in solcher Uebung und erkennt die Hunderte in den Tausenden heraus.“

Verschiedene schmale Treppen führen aus dem untern Geschoß, wo sich die große Küche und die Badezimmer befinden, nach verschiedenen Richtungen in die Schlafsäle für Männer und in die für Frauen. Jeder Ankömmling muß sich seines Schuhwerks entledigen und Strümpfe und Gesicht, Hände und Füße in den Bade- und Waschzimmern reinigen, welche mit kaltem und warmem Röhrenwasser versehen und in mustergültiger Reinlichkeit erhalten werden. Das Schuhwerk wird bis zum nächsten Morgen aufbewahrt. In Reihen, wie auf Bücherbretern, stehen die Schuhe an den Wänden geordnet; schwere und leichte, große und ganz kleine, welche trostlosen Wanderungen haben sie durchmessen! Dort jene Matrosenschuhe kommen vom sturmerschütterten Verdeck vielleicht eines Ostindienfahrers; diese Frauenschuhe in der Nebenkammer wanderten wohl die Insel Britannien durch von einem Ende zum andern; jene Bettelschuhe eines Kindes standen tausendmal auf dem Pflaster von London-Bridge und die kleineren Füße darin zitterten vor Frost und der Leib darüber schwankte im Verschmachten. Auch der elegante Lackstiefel fehlt nicht, wenn auch nur als Ruine, denn es kommen auch Leute hierher, die einst „Gentlemen“ gewesen, aber im großen Jagen von den Hinterherdrängenden überholt und bei Seite getreten wurden in London, wo so oft das gräßliche Gesicht des Elends über die Schulter blickt, die in das feinste Tuch gekleidet ist.

Baarfüßig, die Kappe oder den Hut in der Hand, schreiten sie die Treppen hinauf, die Einen in die Männergemächer, die Andern in die der Frauen. Hier, so lange noch Platz, setzt sich Jeder still auf die an den Wänden entlang laufenden Bänke, zu Häupten der erwählten Lagerstätte, eines Holzkastens, am Kopfende ein wenig erhöht – Breter und Holz, aber reinlich gehalten. In zwei Reihen, wie auf den Boden genagelte lange Fächer, laufen diese Bettstätten durch die Länge jedes Schlafsaales, in einem sechszig in kleineren weniger. Gerade so viel Raum in jeder, wie in einem Sarge, wo auch der Aermste zuletzt sein Haus findet und der Unseligste, der zu Lebzeiten keine Stätte für sein Haupt finden konnte, für das Haupt, in dem eine unsterbliche Seele wohnt, Grundbesitzer wird über sechs Fuß geschaffener Erde. So sitzen sie sich gegenüber und warten, bis die Schlafensstunde schlägt. Welche Gesichter! Alle still! Keine unziemlichen Reden, kein Geräusch. Es ist, als achte die Armuth instinctmäßig den Platz als einen für sie heiligen.

Auch jener zottelige Vagabund in der Ecke hat sein wüstes Gesicht in anständige Falten gezogen. Neben ihm sitzt ein Arbeiter in der Manchesterjacke, die hornigen Hände auf die Kniee gelegt. Er sieht kräftig aus, vielleicht ist’s nur ein augenblicklicher Nothbehelf für ihn, einmal hier eine Nacht zu versuchen. Hier ein kleiner grauhaariger Mann, der die Augen niederschlägt, mit jedem Arme einen Knaben umfangend, Kinder in ärmlicher, aber sauberer Wäsche – zerbrochenes Glück steht auf diesen Zügen geschrieben. Es ist wohl das erste Mal, daß ihr hierher gekommen seid! Daneben ein verwegenes bleiches Gesicht, eine Art Fuchskopf, diebische Augen, doch hier bleiben die Finger müßig; wer stiehlt Lumpen? Und so geht’s fort, Kopf an Kopf bis zu einem breiten Negergesichte, das wie ein schwarzer Punkt diese lange Gesichtergeschichte abschließt, ein Bruder Misérable neben dem anderen. Hier und da haben es sich schon Knaben, die ohne Vater gekommen – „Araber der City“, die irgendwo, irgendwie des Tages über auf dem Pflaster leben – in den Schlafsärgen bequem gemacht. Da ist ein Paar entschlafen, in einer Umarmung, in Lumpen, aber mit feingeschnittenen, blühenden Gesichtern, schön wie die Söhne Eduard’s im Gemälde. Es fehlt nur die Schlummerdecke von Purpursammt und das Kopfkissen von Seide. Aber der Schlaf der Jugend kümmert sich nicht um das harte Bret.

So warten sie, bis ein Mann vom Dienstpersonal das Tischgebet spricht. Dann kommt ein Becher Kaffee und ein Stück guten, unverfälschten Weizenbrodes zur Labung, dann eine kurze Predigt, ein hundertstimmiges Amen und endlich der ersehnte, der erflehte, der heilige Schlaf.

Ebenso ist es bei den Frauen. Ich blieb hier an der Schwelle stehen. Es widerstand mir, wie ein Neugieriger hier durch die Länge des Saales Parade des Elends abzunehmen. Der Eindruck ist ein tieferer im Mitleid, ein vollerer im Erbarmen. Der Mann, wenn nicht ein Krüppel, erscheint nie so hülflos, wie das Weib der Armuth. Auch hier dieselben Variationen, wie im anderen Saale. Manche wohl, die schon mehr als einmal im gelben Nachtnebel an der Themse gestanden, den Frieden der Tiefe mit der Seele suchend, hier und da wohl Eine, die mehr als einmal den Wellen entrissen. Vom Trunk gefärbte Gesichter und andere hungerbleich, grobe Hände mit schwellenden Adern und feine, weiße, die mit der Nadel gegen das Ungeheuer Mangel kämpfen. Auch kleinere, ganz kleine Wesen, halbnackt, halb verwildert, halb noch von der Unschuld verschönt, mit oder Mutter, ohne Mutter, mutterseelenallein, wie eine verirrte Taube. Husch in die Ecke eines Bettkastens gekauert, den zerrissenen Shawl über das Gesicht gezogen! Hier sind die Gesichter lebhafter. Frauen kritisiren einander auch noch dort, wo alle Unterschiede ein Hohn wären, und doch kann der Nachbarin besseres Kleid noch Eifersucht erregen! Hier wird noch gesprochen; namentlich eine alte Irländerin, die sich der Hausregel des Stillsitzens durchaus nicht fügen will, entlastet ihr Herz von einer Fülle drolliger Rohheiten im breiten irischen Accent und mit jenem halbnärrischen Augenzwinkern, das einem Lachen unter Thränen zum Verwechseln ähnlich sieht.

Nach dem Gebet kommt auch hier das Mahl, ein Zinnbecher mit warmem Kaffee und ein Stück Brod. Wie in der Kirche bei der Austheilung des Abendmahls schreitet Eine hinter der Anderen an der Madame des Hauses und ihrer Magd vorüber, von denen die Eine den Kaffee schöpft, die Andere das Brod einhändigt, das von Jeder mit einer Neigung und einem „Thank you“ empfangen wird. Merkt auf diese zwei Worte! Die Eine dankt mürrisch, sie nimmt das Almosen an, nur weil sie muß, und grollt vielleicht der Geberin, der Unbekannten, die dazu das Geld hergegeben; eine Alte empfängt es mit zitternder Dankbarkeit; ein kleines Mädchen hat das Brod schneller in den Mund

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_219.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)