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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

wie gelähmt. Hohe Gebirge sind bis heute noch die einzigen Hindernisse für die Eisenstraßen. Doch der menschliche Geist ruht nicht, er arbeitet und drängt voran. Auch die Berge sollen nicht mehr hemmen, und der Mont-Cenis ist dazu bestimmt, in den Versuchen, die hierzu angestellt werden, eine wichtige Rolle zu spielen.

Die Alpen zu besiegen, giebt es zwei Mittel. Man kann entweder die Gebirge durchbohren, um die Eisenbahn durchzuführen – eine wahre Riesenarbeit – oder man kann den Zug die Höhen überschreiten lassen, was im ersten Augenblick chimärisch erscheint. Allein Beides wird jetzt versucht. Nach einem von einem italienischen Ingenieur, Sommeiller, mit Hülfe zweier Collegen, Grandis und Grattoni, gefundenen eigenthümlichen Systeme, die Luft durch Wasserdruck zu comprimiren und sie dann als bewegende Kraft zu benützen, ward 1857 die Durchtunnelung des Mont-Cenis begonnen. Der kühne Ingenieur übernahm die Hauptleitung. Mit Muth begann man die Arbeit von beiden Seiten des Berges. Man entschied sich, den Tunnel in einer Höhe von etwa eintausendzweihundert Metern über dem Meer hinter St. Michel bei Modane in Savoyen und bei Bardonnèche hinter Susa in Piemont zu beginnen. Die Bohrlinie zieht sich nicht unter der eigentlichen Höhe des Mont-Cenis hin, sondern läßt sie zweihundert Meter seitwärts liegen und geht in der Nähe des Mont-Tabor durch den Berg. Ueber dem Tunnel thürmt sich also eine Masse von eintausendsechshundert Metern empor. Der Stein selbst, der zu durchbrechen ist, gehört zu den härtesten Felsarten, denn es ist hauptsächlich Glimmer und Quarz, auf die man gestoßen ist. Gleich der Beginn war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Alle Maschinen mußten aus Belgien herbeigeschafft werden und ihr Transport über die Alpen war höchst mühsam. Bei Bardonnèche und Modane, die eben noch in der Oede gelegen halten, entstanden wie durch Zauberschlag neue Dörfer mit stattlichen Gebäuden, wo die vielen Hunderte von Arbeitern, die an dem Werk verwandt werden, Unterkommen und Unterhalt finden konnten.

Die treibende Kraft, die einzige, welche Sommeiller benützt, und welche hinreicht das härteste Gestein zu durchbohren, ist nichts anderes, als das von den Alpen strömende Bergwasser. „Keine Dampfmaschine, keine Kohlen!“ rief er im Parlament, wo er seinen Plan vertheidigte. „Mit diesem System sind wir reicher, als England. Dessen Kohlenlager werden sich einst erschöpfen, unsere Wasser aber werden fallen, so lange die Alpen stehen.“

Bis jetzt sind von Bardonnèche aus zweitausendsiebenhundert Meter und von Modane aus zweitausend Meter gebohrt, und es bleiben noch ungefähr siebentausendfünfhundert Meter übrig. Viel ist also gethan, doch unendlich viel ist noch zu thun. Aber sicher, wenn auch langsam, schreitet das staunenswerthe Werk voran. Jeder, der es einmal gesehen hat, wird mit der Idee scheiden, daß er hier wohl die großartigste Unternehmung des Jahrhunderts vor sich hatte. Wenn man den Tunnel zum ersten Mal betritt und an die Last denkt, die sich über den vorwitzigen Menschen hier erhebt, so kann man sich eines ängstlichen Gefühls nicht erwehren. Ein einziges Beben der Felsen, und Alles, was hier lebt und frisch sich regt, wäre für immer im tiefsten Schooß der Erde begraben. Doch nur einen Augenblick herrscht dieses Unbehagen vor, bald überkommt Jeden das Gefühl völliger Sicherheit. Der Tunnel ist ziemlich breit, denn er hat Platz für zwei Schienenwege; er ist völlig ausgemauert und sauber geglättet. Gasflammen erleuchten ihn, und die frische Luft, die fortwährend den Maschinen selbst entströmt, bewirkt, daß man überall frei und leicht athmen kann. Das ist eben einer der großen Vortheile, daß dieselbe Maschine dazu dient, die Bohrarbeiten zu führen und gleichzeitig die Luft zu erneuern. Unter dem eigentlichen Tunnel zieht sich noch ein kleinerer Gang hin, in welchem das Wasser abläuft, das man trifft, in welchem die Gasleitung angebracht ist und in welchem die Röhren der comprimirten Luft liegen, damit sie beim Sprengen der Felsen keine Beschädigung erleiden. Zugleich dient dieser zweite Tunnel zur Sicherung der Arbeiter, die sich im Nothfall durch ihn retten können, sollte der Haupttunnel durch irgend ein unvorhergesehenes Ereigniß versperrt werden.

Welche Schwierigkeiten sich bis zur Vollendung des Werkes noch darbieten werden, läßt sich nicht voraussehen. Wenn auch nicht zu bezweifeln ist, daß man derselben Herr wird, so ist doch die Berechnung der noch erforderlichen Zeit höchst unsicher. Im günstigsten Fall hat man immer noch, trotz der Versicherungen des italienischen Ministeriums, sieben bis acht Jahre zu arbeiten, und der ganze Bau wird schließlich die Riesensumme von hundert und dreißig Millionen Franken verschlungen haben.

Dieser ungemeine Aufwand von Zeit und Geld macht ähnliche Arbeiten sehr schwer. Nur Staaten, keine Privatgesellschaften, können im Interesse des Ganzen solche Opfer bringen. Und doch spricht sich in allen Alpenländern das lebhafte Bedürfniß nach Eisenbahnverbindungen mit den Ländern jenseits der Berge aus. Bereits arbeitet man an einer großen Brennerbahn, und in der Schweiz wägt man die Vortheile der verschiedenen Uebergangspunkte, des Gotthardt, Splügen und anderer Pässe gegen einander ab und scheut selbst nicht vor der Idee zurück, unter Umständen einen Tunnel von der Länge des Mont-Cenis-Tunnels herzustellen.

Diese Bestrebungen haben in neuester Zeit durch das Unternehmen einer englischen Gesellschaft, an deren Spitze der Ingenieur, J. B. Fell, steht, einen neuen Anstoß erhalten. Fell hat den kühnen Plan gefaßt, die Höhen der Alpen in offner Eisenbahn zu überschreiten. Auch er hat den Mont-Cenis zu seinem Versuch ersehen, und die französische, wie die italienische Regierung haben der Gesellschaft bereits die Concession zu dieser Eisenbahn über den Berg, jedoch nur bis zur Vollendung des Schienenwegs durch denselben, ertheilt.

Die ersten praktischen Versuche nach seinem neuen System machte Fell in England auf der High-Peak-Eisenbahn (Derbyshire), deren Benützung ihm von der London- und Nordwesteisenbahn-Gesellschaft bereitwillig gestattet wurde. Auf einer Strecke von etwa 700 Metern wurde eine Bahn angelegt, welche in den verschiedensten Steigungen und Windungen sich erhob und senkte, und alle Versuche gelangen zur größten Befriedigung.

Behufs weiterer Prüfung wählte man dann eine der steilsten Stellen der Mont-Cenisstraße auf französischer Seite, hinter dem Oertchen Lanslebourg, und legte auf ihr einen Schienenweg in der Länge von zwei Kilometern an, welcher 150 Meter, also auf zwölf Meter je um einen, stieg.[1] Auf ihm circulirt bereits seit einem Jahr die neue Locomotive und schleppt mehrere belastete Wagen ohne Hinderniß und Gefahr auf und ab. Englische und französische Ingenieure sind im Auftrag ihrer Regierungen zur Prüfung gekommen und haben sich in ihren Berichten auf das Günstigste über das ganze Unternehmen ausgesprochen.

Die Grundidee, von welcher Fell bei seiner Anlage über den Mont-Cenis geleitet wird, ist nicht neu; es ist der Grundsatz, den man auch beim Semmering in Anwendung gebracht hat, das Aufsteigen des Zugs durch verstärkten Druck auf die Schienen, durch größere Reibung zu bewerkstelligen.

Doch der Mont-Cenis steigt bedeutend steiler auf, als der Semmering. Hat man dem Weg zur Höhe durch große Schlangenwindungen auch viel von seiner Schroffheit genommen, so bleibt die durchschnittliche Hebung doch noch immer wie 1:25, ja sie erhebt sich nicht selten, wie schon oben bemerkt, bis auf 1:12. Es war also nöthig, eine größere Reibung, als auf dem Semmering zu erzeugen, und Fell erzielte dieses Resultat durch Hinzufügung einer mittleren, etwas erhöhten Schiene.

Die Eisenbahn wird auf der gewöhnlichen Straße angelegt, die etwa neun Meter breit ist. Davon werden jetzt vier Meter an der Seite des Abhangs abgeschnitten und für den Schienenweg bestimmt. Die übrigen fünf Meter zwischen der Bahnlinie und den Felsen bleiben, wie bisher, für den gewöhnlichen Verkehr der Menschen und Wagen. Daß die Bahn grade am Abhang her geführt wird, scheint im ersten Augenblick bedenklich und gefährlich; allein es liegt darin eine Minderung der Gefahr, weil der Bahnzug auf diese Weise öfters allzuschroffe Biegungen vermeidet. Auch ist dadurch in Winterszeit die Reinhaltung der Bahn sehr erleichtert, da man die Schneemassen nur in den Abgrund zu kehren braucht.

Auf diesem äußeren Abschnitt des gewöhnlichen Fahrwegs ist nun ein Schienengleis gleich dem einer jeden sonstigen Eisenbahn, gelegt. Allein zwischen diesem Schienenstrang zieht sich eine schmale Erhöhung von etwa sieben Zoll hin, auf welcher eine dritte Schiene gewöhnlicher Art, aber umgestürzt, befestigt ist. Diese Mittelschiene mit Erfolg benützen zu können, mußte nun auch die Maschine verändert werden. Ihre Cylinder wirken zunächst auf die senkrecht auf den Schienen laufenden Räder, die gleich denen einer gewöhnlichen

  1. Ein Meter ist etwa 3,1 preußische Fuß; ein Kilometer = 1000 Meter.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_268.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)