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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

über deren wahren Stand und Namen entgegennehmen. – Da geschah in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag das Unglaublichste: auch Fräulein Eva war plötzlich gestorben.

Der Vater des Herrn Schenck-Rinck eilte sofort nach Offenbach, konnte nur mit Mühe den Eintritt in das Palais erlangen und verlangte die Leiche zu sehen; und siehe: kaum zwölf Stunden nach angeblich erfolgtem Tode der Verblichenen war der Sarg bereits geschlossen! Ein Arzt, welcher das Fräulein nie im Leben gesehen, hatte den Todesschein ausgestellt! Ohne besondres Gepränge wurde der Sarg mit weiß Gott welchem Inhalt zu Grab gebracht.

Erzherzog Carl kam nun nicht nach Offenbach; man begnügte sich damit, den Geheimsecretär und die dem Hofstaat attachirten Herren gefänglich einzuziehen und die übrige Dienerschaft gerichtlich zu vernehmen. Aller übereinstimmende Aussage lautete jedoch nur: „Wir wissen, daß das Fräulein unsere gütige angebetete Herrin und alleinige Gebieterin war“ – und: „Wir haben in dem Fräulein eine Romanowna gekannt und verehrt.“

Die Namen der damaligen höheren Beamten des Franck’schen Hofhalts waren: Johann und Michael Matuschewski, zwei Pawlowski, Piazewski und Saleski; Letzterer zeichnete sich später als Verfasser einer Geschichte seines Vaterlands Polen aus und ist erst 1864 gestorben, ohne den Schleier dieses Geheimnisses gelüftet zu haben.

An den Tod des Fräuleins Eva hat Niemand geglaubt, ja man nannte sogar damals offen einen fürstlich Isenburgischen hohen Staatsbeamten (v. G.) als Denjenigen, welcher dem Fräulein die Flucht ermöglicht habe.

Der Vorhang über das geheimnißvolle Geschlecht war somit gefallen, – um so offenbarer ging der vor den Schulden auf. Die Schuldenmasse betrug drei Millionen Gulden. Jetzt erst wurde Concurs über den Nachlaß des Fräuleins erkannt; der wenn auch nicht unbedeutende Erlös aus dem Verkauf der Mobilien und Immobilien minderte doch die Schuldsumme nur wenig, und so wurden den Creditoren gerichtlich alle Wechsel und Verschreibungen, die nach Beschluß nicht verjähren können, ausgeliefert, um später vielleicht einmal ihre Ansprüche geltend zu machen. – „Aber wohin sollten die Creditoren sich mit diesen Ansprüchen wenden?“ – so schließt Herr Schenck-Rinck. „Selbst das kaiserliche Haus Romanow, zu welchem die Franck’sche Familie vielleicht in nächster Beziehung stand, wird sie zurückweisen, – und so schlummern denn sämmtliche Wechsel und Briefe sammt jener merkwürdigen Proclamation in dem tiefsten Winkel unserer Familien-Erlebnisse.“ –





Auf einem niedersächsischen Bauernhofe.

Lauenburger Reiseerinnerung von Otto Glagau.


An einem frischen Octobermorgen verließ ich in Begleitung eines Cameraden Ratzeburg, die kleine mitten im Ratzeburger See liegende Hauptstadt des kleinen Herzogthums Lauenburg, um einen Streifzug durch das platte Land zu machen. Wir wanderten über den St. Georgsberg, auf dem sich am hohen Ufer des Sees sehr schön ein Kirchlein erhebt, das man für das älteste im Lande hält, und befanden uns schon nach einer kleinen halben Stunde im „Ausland“, nämlich in der Lübeckschen Enclave Bahlendorf, welche aus einem Kirchdorfe und mehrern kleinern Ortschaften besteht. Mit dem Ueberschreiten der Stecknitz, die von Norden nach Süden mitten durch das Land fließt und den Hauptfluß desselben bildet, sind wir wieder im Herzogthum, und zwar im nordwestlichen Theile, wo sich der schwerste, fruchtbarste Boden und im Leben und Wesen der Bewohner noch ganz ursprüngliche Zustände vorfinden. Im Uebrigen ergötzten wir uns auch hier an der anmuthigen Landschaft, die sich aus sanften Hügeln, dichten Laubwäldern und hellen Seen zusammensetzt. Dazwischen laufen die braunen Acker- und saftigen Wiesenstücke, jede Koppel von einer lebenden Hecke, sogenannten Knicks, umfriedigt. Dann führte der Weg durch eines jener zahlreichen Gehölze von Eichen und Buchen, und alsbald vernahmen wir vor uns eine laute, kräftige Stimme, die mit folgendem Liedchen das Echo wachrief:

Kein bess’res Leben ist
Auf dieser Welt zu denken,
Als wenn man ißt und trinkt
Und läßt sich gar nichts kränken.
Ich lauf’ durch Wald und Feld
Und lach’ und sing’ dabei,
Hab’ ich auch nicht viel Geld: –
Es ist mir einerlei.

Deutlich drangen die Worte zu uns und wir eilten, den Sänger einzuholen. Es war ein untersetzter breitschulteriger Mann, der vierzig und etliche Jahre zählen mochte, mit einem wettergebräunten, scharfausgeprägten Gesicht, in welchem ein Paar kluge, graue Augen und ein starker Schnauzbart saßen. Unter dem linken Arm trug er einen Geigenkasten, mit dem rechten stützte er sich auf eine Krücke, mit welcher er trotz seines Stelzfußes rasch vorwärts humpelte. Wie er uns bemerkte, blieb er stehen und grüßte freundlich.

„Sie scheinen ja recht lustig und glücklich zu sein,“ redete ich ihn an.

„Jederzeit!“ entgegnete er. „Und ich habe alle Ursache dazu. Wie Sie mich hier sehen, bin ich ein wahres Glückskind.“

„Ein Glückskind?“ wiederholte ich zweifelnd und sah nach seinem hölzernen Bein.

„Ah!“ sprach er und folgte lächelnd meinem Blick. „Sie stoßen sich an diesen kleinen Verlust, aber glauben Sie mir, ich merke ihn schon lange nicht mehr. Ich komme mit Einem Bein eben so gut durch die Welt wie Sie und Andere auf zweien.“

„Sie sind ein Philosoph,“ sagte ich.

„Das weiß ich nicht,“ antwortete er, „denn ich kenne solch’ ein Thier nicht; aber ich weiß, daß ich ein Glückskind bin. Das Glück stand mir schon bei meiner Geburt bei, als ich noch gar keine Ahnung von ihm hatte, und es ist mir bis zur jetzigen Stunde treu geblieben.“

„Da möchte ich wohl Ihre Lebensgeschichte hören.“

„O, die ist kurz und einfach. Ich bin ein Zwillingskind, mein Bruder kam todt zur Welt, ich aber gesund und kräftig. War das nicht ein ganz besonderes Glück?“

„Allerdings.“ „Und was mein Bein betrifft, ich verlor es am 4. October 1850 beim Sturm auf Friedrichstadt, wo ich in den Reihen der schleswig-holsteinischen Armee kämpfte. Eine Kanonenkugel nahm es mir fort, aber meinem Vordermann hatte sie den Kopf abgerissen. War das etwa kein Glück?“

„Wie man’s nehmen will, aber –“

„Hören Sie nur weiter. Meine Geschwister, meine Vettern und Basen, meine ganze Verwandtschaft sitzen hier im Lande auf Bauerhöfen, wo sie vom frühen Morgen bis späten Abend sich wie das Vieh um das liebe Tagesbrod placken. Ihr ganzes Leben ist schwere Arbeit und ewige Sorge, sie haben von der Welt kaum etwas mehr gesehen als das Dorf, wo sie geboren sind und wahrscheinlich auch sterben werden. Mein Tagewerk dagegen ist Wandern und Nichtsthun; ich habe bereits ganz Deutschland durchstrichen, heute bin ich hier und morgen da, und wo ich hinkomme, streiche ich die Fiedel und lasse die Leute singen, springen und tanzen. Wo der Schornstein raucht, da wird auch für mich gekocht, und für die Nacht finde ich unter jedem Dache ein Unterkommen, sei es ein Federbett oder ein Strohlager. Häufig führt mich mein Glück zu Kindtaufen, Hochzeiten oder Jahrmärkten, wo es Speise und Trank in Hülle und Fülle giebt und nebenher noch Silber- und Kupfermünzen regnet. Nun sagen Sie selber, bin ich ein Glückskind oder bin ich es nicht?“

„Wenn Sie sich bei diesem Leben zufrieden und behaglich fühlen,“ entgegnete ich.

„Wie der Vogel in der Luft, wie der Fisch im Wasser. Habe ich doch darum einen hübschen Bauernhof fahren lassen, den Hof, auf welchem jetzt mein Bruder sitzt, der mich in seinem Herzen auslacht, mich einen Narren, einen Landstreicher schilt. Aber ich tausche mit ihm nicht, und wenn er’s mir heute anböte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_348.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2021)