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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

zog, fand die in Form einer Rechnung erhobene Entschädigung nicht zu übermäßig. Aber bei der Reisewelt Rußlands, die sonst nicht gewöhnt ist zu geizen, hatte die dürre, nackte Zahl gewaltig Staub aufgeworfen und die Meinung in Curs gebracht: wer in der Schweiz reise, werde so lange gepreßt, als er noch einen Imperial in der Tasche habe. So wenigstens hatten es mir später der alte russische Herr, von dem sogleich näher die Rede sein soll, und sein jüngerer Begleiter mitgetheilt.

Es war Abend. Ich stieg in den erleuchteten Omnibus des Hotel N. N. auf dem Wege zu einer Berner Oberländer Tour, als ich gedachte beide Russen bereits im Wagen der Abfahrt harrend fand. Mein Alpenstock machte die Neugierde des jüngeren rege, und unter leichter Begrüßung fragte er, wozu eine solche Stange diene.

„Es ist ein Bergstock,“ erwiderte ich ihm, „wie sich derselben Alpenreisende, Gemsjäger etc. bedienen.“

„Ah! vous-êtes chasseur aux chamois?“ fragte er leuchtenden Auges.

„Dies nicht!“ entgegnete ich lächelnd, „ich gehe nur in’s Gebirge, eine Tour zu machen.“

„Ist das gefährlich?“

„Das läßt sich nicht so allgemein beantworten. Es giebt Thäler und Berge, großartige Felsenpartien und Gletscher, die jährlich von Tausenden und Tausenden besucht, erstiegen, überschritten werden, die Damen, Kinder begehen können, ohne die mindeste Furcht vor irgend welcher Gefahr hegen zu müssen, und es giebt deren wiederum, wo Schritt und Tritt fest, das Auge schwindelfrei, der Körper ausdauernd sein müssen.“

„Glauben Sie, daß ich eine Bergtour werde machen können?“

„Ich kenne Ihre Kräfte nicht, mein Herr, weiß nicht, ob Sie Fußgänger sind, deshalb kann ich Ihre Frage in dieser Allgemeinheit wieder nicht beantworten!“

„O ja, ich bin schon zu Fuß marschirt,“ erwiderte er mit einigem Selbstgefühl, und nannte mir irgend eine kurze, zwei- oder dreistündige, ebene Strecke in der Nähe von Petersburg, knüpfte aber sofort die Frage daran, ob er sich mir anschließen dürfe.

Bedingungsweise ging ich vorläufig auf seinen Wunsch ein. Der Wagen hielt, wir stiegen aus und verabredeten Rendez-vous beim Nachtessen. Ich war am Umkleiden auf meinem Zimmer, als ich einen Heidenlärm auf dem Corridor der gleichen Etage hörte und bald aus den verschiedenen Stimmen die des jungen Russen heraus erkannte. Der Kellner, welcher die beiden Herren (die ohne Bedienung reisten, um nach ihrer vorgefaßten Meinung nicht auch bis auf den letzten Franken ausgeplündert zu werden) auf’s Zimmer führen sollte, hatte sich, wie es scheint, eines ungewählten Ausdruckes bedient, als die Zimmer den beiden Russen nicht elegant, nicht comfortabel genug eingerichtet erschienen. Genug, als ich hinzukam und der Wirth und andere Leute herbeieilten, fand ich den alten General, wie er den leichenblassen Kellner an der Cravatte mit fester Faust gepackt hatte, wie einen Schelmen schüttelte und in einem gräßlichen Französisch zornglühend andonnerte, ob er sich erdreiste, ihn zu taxiren, wie viel er für einige Zimmer zahlen könne.

Der gewandte Wirth ebnete sofort durch sein äußerst höfliches Entgegenkommen die Differenz, indem er fragte, wie lange die Herrschaften zu bleiben gedächten. Als man ihm antwortete: „Bis zum nächsten Mittag,“ offerirte er sofort eine Reihe von Zimmern, welche für den nächsten Abend für einen Gesandten bestellt waren. Die Salons gefielen, der Sturm war besänftigt und der Hotelier wußte, mit wem er es zu thun hatte. Der Speisesaal zu ebener Erde war bereits leer, als ich hinabkam. Drei Couverts waren für uns in Bereitschaft. Ich hatte mir ein Gläschen Kirschwasser geben lassen; es stand noch unangerührt da, als die beiden Russen eintraten.

„Was trinken Sie da?“ fragte der ältere Herr, und ohne die Antwort abzuwarten oder mich darum zu begrüßen, nahm er mein Glas, probirte, d. h. warf dessen Inhalt mit einem Schluck hinab und fand ihn so vorzüglich, daß er sofort – eine Flasche von diesem starken Destillat bestellte. Der Kellner stutzte, ein Wink des Wirthes, und der Befehl wurde vollzogen.

Wir nahmen Platz. Der General präsidirte. Der jüngere Russe und ich saßen einander gegenüber.

„Weinkarte!“ Prüfenden Blickes überflog unser Tischpräsident dieselbe, nahm einen Bleistift und strich etwa so, wie man in einem Auctionskataloge die Titel der Bücher, auf die man zu bieten gedenkt, markirt, acht oder zehn Sorten an. „Ah, bière de Munic!“ Ebenfalls ein Strich.

Eine Flaschen-Colonne, die alle Aussicht versperrt haben würde, sollte aufgestellt werden. Der feine, industriöse Wirth hatte dies vorausgesehen und ließ ein Büffet-Tischchen zur Seite der alten „Excellenz“ etabliren, so daß Küche und Keller getrennt waren. Man servirte die Suppe. Suchenden, mißvergnügten Blickes sah sich der alte Herr um, der Wirth flog herbei. Er (der General) fand es höchst lästig, ein Souper einnehmen zu sollen in der Reihenfolge, wie es dem Koch beliebe; warum nicht ein Menu aufliege? man solle Alles, was man für uns in Bereitschaft habe, auf die Tafel stellen, er werde sich dann schon auswählen, was ihm behage. Auf mich, den er kaum durch die zufällige Begegnung, weder dem Stande, noch dem Namen nach, kannte, nahm er keine Rücksicht und behandelte mich so, als ob ich sein Gast sei und mit seinen Anordnungen vorliebzunehmen mich bequemen müsse. Das kategorische Auftreten des alten Kauzes machte mir Spaß, und in Voraussicht, daß es farbige Momente geben werde, trat ich auf den angeschlagenen Ton ein.

Jetzt schleppten alle disponiblen Kellner Fisch, Braten, Saucen, Entremets, Puddings, Compots, süße Platten, Salate, kurzum, was das Haus vermochte, herbei, so daß die breite Tafel, kaum Raum genug bot. Ein eleganter Speisezettel (menu) rapportirte über die aufgestellten Gänge. Nun aber ging es an ein Durcheinanderkauen der ungebundensten Art. Das, was wir einen „russischen Salat“ zu nennen pflegen, die Mischung kleingeschnittener, marinirter Fisch- und gebratener Fleischspeisen mit pikanten, sauer eingemachten Früchten, ist eine geordnete Verbindung verwandter Stoffe gegenüber dem, was unser Präsidirender aus seinem Teller zu vereinigen wußte. Zwischendurch schenkte er sich ein halbes Weinglas voll Kirschwasser ein, trank’s und löschte die brennende Wirkung des Aquavits mit – Bier ab. Dabei wurde er redselig, erzählte mir, höchst eifrig kauend, in russischer Sprache (von der ich kein Wort verstand, die mir jedoch mein vis-à-vis stets heiterern Humors lachend übersetzte) Dinge in ähnlicher Reihenfolge, wie er seine Mahlzeit einnahm.

Der alte Herr hatte als Oberst im Kaukasus commandirt, war sein Lebenlang kaum vom Pferd gekommen, kannte das Gebirge und die Strapazen in demselben aus langjährigen Erfahrungen und machte zum ersten Mal einen Ausflug in’s „Innere Europas“. Daher sein imperativer Ton, seine kosakisch-directe Handhabung der Cravatten-Justiz. Er probirte die Weine bunt durcheinander, wechselte die Gläser häufig und hatte von General Dufour und Wilhelm Tell gehört. Seiner dunklen Erinnerung nach mußte letzterer in der Eigenschaft als schweizerischer Commandeur bereits seinen Abschied genommen haben, als General Dufour das Commando übernahm. Auch die Schlacht im „jardin des Sarrasins“ oder „Mohren-Garten“ (er meinte den Kampf am Morgarten 1315 zwischen Herzog Leopold von Oesterreich und den Hirten der Waldstätte) war ihm nicht fremd, nur meinte er, es habe sich damals um ein Gefecht zwischen Mohren oder Beduinen und Schweizern gehandelt.

Die Quiproquos und der Humor des lebhaft bechernden alten Herrn wuchsen von Glas zu Glas; in uns fand er den freudigsten Widerhall seiner Stimmung, kurzum der Abend wurde prächtig. Aber die Kellner waren dem General nicht flink genug, oder vielmehr, da sie sein Russisch nicht verstanden, sahen sie ihm nicht an den Augen ab, was momentan sein Wunsch war. Er verlangte nach dem Wirthe.

„Ich weiß nicht, wie Ihre Leute heißen, Iwan oder Henri oder Feodor; deshalb bestellen Sie mir ein Paar Diener, die heute Abend ausschließlich für meine Bedürfnisse bestimmt sind, stellen Sie dieselben hinter meinen Stuhl und den Lohn dafür auf meine Rechnung.“

Zwei junge Kellner im schwarzen Frack mit der Serviette überm Arm mußten wie Ordonnanzen Posto fassen. Jetzt kam Appetit nach Champagner. Die Eiskessel wurden herbeigebracht, auch Gläser en grisaille (die mattgrauen weiten Schalengläser, deren man jetzt sich zum Champagner bedient). Die Fenster waren geöffnet.

Ein spöttischer Zug überflog das weinheitere Gesicht des Graukopfes. „Aus solchen Gläsern? Die sind gut für Handwerksburschen, wenn ihrer sechs die letzten Kopeken in den Taschen zusammensuchen, um eine Flasche bezahlen zu können. Ein Jeder

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_357.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)