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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

einer Million, der andere ein Capital von vier Millionen Pfund Sterling involvirten, beinahe spurlos an der auf’s Tiefste niedergedrückten Stimmung des Geldmarktes vorüberging. Eine Reaction zum Bessern brachte während der Nachmittagsstunden das von der Stock-Exchange verbreitete, vorläufig noch grundlose Gerücht hervor, daß die Bank von England durch die Regierung ermächtigt worden, Banknoten zum Betrage von fünf bis zehn Millionen über den in ihren Koffern befindlichen Gold- und Silberwerth zu emittiren. Ueberdies widerstanden die übrigen Privatbanken und Joint-Stock-Banks dem Sturm auf ihre Ressourcen mit staunenswerthem Erfolge. Mehrere derselben hielten, in der rühmlichen Absicht dem panischen Schrecken zu steuern, ihre Thüren zwei Stunden über die gewöhnliche Geschäftszeit offen. Allein trotz alledem war die Ansicht, daß nichts als ein schleuniges Einschreiten der Regierung, als die Suspension der Bank-Charter-Acte von 1844, vor weitverbreitetem Ruin retten könne, allgemein. Die Staatspapiere (Consols) waren vier Procent gefallen, die Bank von England hatte ihren Discontosatz auf neun Procent erhöht, die Actien mancher auf das System „beschränkter Haftbarkeit“ (Limited Liability) gegründeten Compagnien waren unter Anerbietung von Prämien zum Verkauf ausgeboten worden, man wußte endlich, daß die Reserve der Bank von England an diesem einzigen Tage durch Anlehen und Geldleistungen um den enormen Betrag von vier Millionen vermindert, daß das noch disponible Capital jener Hauptquelle des nationalen Credits auf drei Millionen zusammengeschmolzen sei. Noch ein Tag wie dieser, und ein allgemeiner Stillstand aller Geschäfte schien unvermeidlich. England, der europäische Continent, Indien, die Colonien, alle Nationen der civilisirten Welt mußten, tiefer als bereits geschehen, in den Strudel einer so unerhörten Katastrophe verwickelt werden und von unberechenbarer Bedeutung war die rasche Benutzung der kostbaren Zeit.

Ehe wir jedoch die praktischen Consequenzen dieser Erwägungen berühren, müssen wir einen Blick auf die Ursachen werfen, welche ein Haus, wie das Overend-Gurney’sche, einen solchen Hauptpfeiler des Credits von England, zum Falle bringen konnten. Thatsache ist, daß man in wohlunterrichteten Kreisen schon lange vor der Katastrophe über den Zustand der Geschäfte des Hauses Zweifel geäußert hatte. Seine Actien waren allmählich gesunken und standen bereits während der letzten Wochen des April wenig über Pari. Aber nichtsdestoweniger hatten die Namen Overend und Gurney noch immer einen magischen Klang in der Kaufmannswelt bewahrt, und wie wenig nicht blos das größere Publicum, sondern die gesammte handeltreibende Genossenschaft auf den Bankerott vorbereitet war, wird durch nichts schlagender bewiesen, als durch den ungeheuern Eindruck, welchen das factische Eintreten der Katastrophe hervorbrachte. Die Gurneys, eine der angesehensten Quäkerfamilien Englands (dieselbe, welcher die durch ihre philanthropischen Bemühungen berühmte Mrs. Fry angehörte), hatten seit beinahe hundert Jahren unter den wohlhabendsten englischen Kaufmannshäusern in erster Reihe gestanden. Sie besaßen, seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, ein großes, noch jetzt bestehendes Bankhaus in Norwich, ein Haus, dessen Geschäfte dem vor Kurzem verstorbenen Haupttheilhaber, Mr. Hudson Gurney, beiläufig ein Vermögen von beinahe zwei Millionen Pfund Sterling abgeworfen hatten. Das Londoner Haus Overend, Gurney und Comp., unter Mitwirkung eines ehemaligen Gesellschafters des Hauses in Norwich, vor etwa siebenzig Jahren etablirt, war seinerseits allmählich zu dem Range des mächtigsten englischen Discontirhauses emporgestiegen, hatte, wie Jedermann bekannt, seine sämmtlichen Theilhaber zu kolossal reichen Leuten gemacht und alle Handelskrisen unsers Jahrhunderts, die Krisen von 1825, von 1847 und 1857 ebenso unerschüttert überstanden, wie die Bank von England selbst. In der That, keine andere Bank als die Bank von England konnte an nationalem Ansehen, an Fülle der Mittel und des Credits, an Großartigkeit der Operationen mit Overend, Gurney und Comp. einen Vergleich aushalten. Bankiers und Depositoren vertrauten ihnen mit ebensoviel Zuversicht Capitalien zur Benutzung an, wie die Bank. Wechsel und kaufmännische Werthpapiere, von Overend, Gurney und Comp. acceptirt und girirt, fanden überall bereitwillige Käufer. Der Werth der alljährlich von der Firma discontirten Wechsel, der bewilligten Vorschüsse und Darlehen stieg hoch in die Millionen hinauf, ihr jährlicher Gewinn erreichte viele Jahre lang die erstaunliche Durchschnittssumme von einmalhundert und fünfzig bis zweimalhunderttausend Pfund Sterling. Wenn diese wohlbekannten Thatsachen auch dem Außenstehenden den besten Beweis lieferten für die Stabilität und gesunde Geschäftsführung des Hauses, so wurde in der Kaufmannswelt einstimmig zugegeben, daß durch keine andere Firma eine weisere Mitte eingehalten werde zwischen Vorsicht und Unternehmungsgeist, daß die große Masse ihrer Vorschüsse und Darlehen nicht zu Gunsten vager weitaussehender Speculationen, sondern zur Beförderung laufender mercantiler Geschäfte auf Garantien geleistet wurden, deren Geldwerth nöthigenfalls jeden Augenblick zu realisiren war; kurz, daß sie mit preiswürdiger Consequenz die Sicherheit verhältnißmäßig kleiner Gewinne, deren Ertrag trotzdem die oben erwähnte ungeheure Totalsumme erreichten, dem Risico großer Profite und waghalsiger Unternehmungen vorzogen, welche während der periodischen commerciellen Krisen so manche weniger solide Häuser zum Falle gebracht hatten.

Zu Anfang der sechsziger Jahre erlitt die Firma eine Reihe von Verlusten, die eine weniger vorsichtige Geschäftsführung erkennen ließen und ihren Credit etwas erschütterten. Auf die dahin schlagenden Verhandlungen im Detail einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es genügt, zu constatiren, daß im Laufe des vorigen Jahres beschlossen wurde, die Firma nach Art anderer großer Häuser aus einem Privatgeschäft in eine Compagnie nach dem Princip „beschränkter Haftbarkeit“ umzuwandeln, und daß, als dies geschah, der Glaube an die Solidität und den Werth ihres Geschäftes noch so fest war, daß die Actionäre der projectirten Compagnie sich ohne Zögern zu der Zahlung von fünfmalhunderttausend Pfund Sterling für den sogenannten Goodwill, d. h. die Uebernahme der Kundschaft des alten Hauses, bereit fanden. Hier und da freilich erklärten warnende Stimmen die in Aussicht stehende Umwandlung für ein böses Omen; allein diese Stimmen verhallten ohne Wirkung. Man riß sich um die Actien, die schon wenige Monate nach der Gründung der Compagnie auf neun Procent über Pari stiegen; die Depositen flossen zu Tausenden und Hunderttausenden ein, und zu Anfang des laufenden Jahres hatten sie die kolossale Totalsumme von fünfzehn bis zwanzig Millionen Pfund erreicht. Mit einem solchen Capital und mit entsprechendem Credit schienen die Prospecte über alle Maßen glänzend, und nach Allem, was man hörte, waren Depositoren und Actionäre derselben Ansicht. Aber die Compagnie hatte den Höhepunkt ihres Erfolges erstiegen und ein Schlag nach dem andern, Betrügereien von Unternehmern, Bankerotte unterstützter Firmen etc., suchte sie während der ersten Monate des neuen Jahres in kurzen Zwischenräumen heim. Jeder neue Verlust führte selbstverständlich zu Discussionen an der Actienbörse. Die neun Procent über Pari sanken auf sieben, sechs, vier, zwei, ein Procent nieder – zu Ende April endlich überschritten die Notirungen die abwärtsführende, verhängnißvolle Linie unter Pari. Inzwischen hatten auch die drohenden Complicationen der festländischen Verhältnisse den englischen Geldmarkt in eine fieberhafte Aufregung versetzt. Die Bank von England hatte ihren Discontosatz auf acht Procent erhöht, das Geld wurde knapper und knapper, das allgemeine Mißtrauen intensiver. Kaum bemerkten die Depositoren und Actionäre von Overend, Gurney und Compagnie die Ueberschreitung jener verhängnißvollen Linie unter Pari, als ein von Tag zu Tag erneuerter Sturm auf die Ressourcen der Compagnie begann. Ein Depositor nach dem andern zog sein Geld aus dem Geschäft, ein Actionär nach dem andern bot seine Actien unter dem ursprünglichen Werthe feil. Die dringende Haltung der Actienverkäufer beschleunigte wiederum die abwärts führende Tendenz der Notirungen und theilte das herrschende Mißtrauen auch den noch festgebliebenen Actionären und Depositoren mit … Und so konnte denn endlich die Compagnie den an sie gestellten Ansprüchen nicht mehr genügen und die große Katastrophe vom 10. und 11. Mai brach überwältigend, unaufhaltsam herein.

Ob eine günstigere äußere Weltlage den Bankerott der Compagnie hätte verhüten können, ist eine Frage, worüber wir uns kein Urtheil anmaßen. Nach den bis jetzt bekannt gewordenen Thatsachen ist es erwiesen, daß die Compagnie an zwei ernstlichen Schäden litt. Sie hatte erstens, um ihre Kundschaft durch die Lockspeise außerordentlicher Gewinne zu vermehren, die sichere Geschäftsmethode des alten Hauses mit weit aussehenden Finanzspeculationen vertauscht, von denen sich allerdings im Laufe der Jahre große Gewinne erwarten ließen, die aber in Fällen der Noth keine augenblicklich realisirbare Garantien darboten. Statt laufende mercantile

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_380.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)