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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Die Jahre vergingen. Hubert’s Nachkommenschaft sank im blühenden Alter in’s Grab bis auf den Einen, der Tante Bärbchens Kinderherz so tief verwundet hatte. Er heirathete eine junge Dame aus vornehmer Familie und siedelte nach siebenjähriger Ehe auf den Wunsch seiner geld- und adelstolzen Frau aus der kleinen Stadt in eine große Residenz über. Haus und Garten wurden vermiethet, und nun faltete der finstere Dämon, der so lange die beiden Häuser umkreist hatte, seine Flügel zusammen; es war, als müßten selbst Bäume und Sträucher aufathmen, als drüben der letzte Koffer aus dem Hause getragen wurde. Eine lange Zeit der ungestörten Ruhe folgte jetzt für Tante Bärbchen, bis auf einmal das moderne Haus jenseit der Hecke aufstieg und, eine neue Quelle des Aergers und Streits, höhnend herübersah.

Die Hofräthin verlor stets ihre gute Laune auf mehrere Stunden, sobald sie an die verhaßte Nachbarschaft erinnert wurde; heute aber war selbst die Unverschämtheit der Dienstleute von drüben sofort vergessen und ein strahlendes Lächeln des Wohlgefallens glitt über die Züge der alten Dame, als ihre Augen dem jungen Mädchen folgten, das leichtfüßig vor ihr her nach dem Hause zuflog. Lilli war das Kind ihrer liebsten Jugendfreundin, die sich nach Berlin verheirathet hatte. Soweit das junge Mädchen zurückdenken konnte, hatte sie stets die Sommermonate bei der Hofräthin zugebracht; denn ihre Gesundheit war immer eine äußerst zarte gewesen und hatte in der kräftigen Thüringer Luft erstarken sollen. Seit drei Jahren waren indeß diese Reisen unterblieben. Lilli’s Mutter starb, und in der ersten Zeit des Schmerzes wollte sich der Vater von seinem Kind nicht trennen. Erst jetzt hatte er auf Lilli’s inständige Bitten nachgegeben; sie empfand tiefe Sehnsucht nach der Tante, die ihr stets einen größeren Fond von Liebe entgegengebracht, als die eigene Mutter. Daher ihre Ungeduld, ihre Todesverachtung, mit der sie auf der letzten Eisenbahnstation die sogenannte Mäuseherberge bestiegen hatte.

Jetzt lag das junge Mädchen in einem altmodischen, aber bequemen Lehnstuhl. Statt des schwarzseidenen Reisekleides flossen die weichen Falten eines hellen Muslins um die Gestalt, an der augenscheinlich die Thüringer Luft ihre gerühmte Kraft und Stärke umsonst versucht hatte. Man konnte nichts Zarteres sehen, als diese feinen Glieder, die, eben in sich zusammensinkend, schmal und klein zwischen den Polstern ruhten, scheinbar, ohne dieselben zu drücken. Sah es doch fast aus, als ob selbst die dunklen Flechten am Hinterkopf zu schwer seien für den schlanken Hals; denn das Haupt bog sich stets leicht hintenüber, als zöge es die Wucht der allerdings unglaublichen Haarfülle zurück. In solchen Momenten der Ruhe und Hingebung ahnte wohl Niemand, daß diese weichen Glieder urplötzlich wie mittels Stahlfederkraft Bewegungen voller Energie annehmen konnten, während jene sanfte Neigung des Kopfes zum Ausdruck jugendlichen Uebermuthes und Eigenwillens wurde. Ebensowenig ließ sich hinter der leichtgewölbten Kinderstirn, die wie ein weißes Blumenblatt unter den zurückfließenden Haarströmen leuchtete, jener aufgeweckte, willenskräftige Geist vermuthen, welcher eine so wunderbare Herrschaft über die zartgebaute Hülle ausübte.

Ihre Blicke glitten in diesem Moment langsam und prüfend durch das Zimmer. Sie nickte dann und wann befriedigt mit dem Kopfe und lächelte naiv und vergnügt wie ein Kind, das seine liebsten Spielsachen nach einer Trennung wiedersieht. Ja, es war Alles noch beim Alten! Da stand das wunderliche Kanapee mit den hohen Beinen und den dicken Federkissen. Sie wußte genau, daß diese vier kolossalen Polster eigentlich in einem Ueberzug von schwerer, grüner Seide steckten, aber Kappen von nicht zu vertilgendem, derbem Gingham bedeckten die veraltete Pracht. Die rothen und blauen Hyacinthen dort auf den zwei blankgebohnten Kommoden hatten nichts von ihrer Schönheit eingebüßt – kein Wunder, sie waren ja genau von demselben Stoffe wie der kleine Dorfcantor, der mitten unter ihnen geigte, wie das zarte Schäfermädchen, das mit vieljährigem Lächeln unter dem blumengeschmückten Strohhütchen hervorsah – sie waren von Meißner Porcellan. Ach, und die Zeit war auch schonend an den beiden Pfauenfedern vorübergegangen, die hinter dem großen Spiegel steckten! Er selbst warf noch immer das ihm gegenüberhängende Oelbild der mit Schminkpflästerchen bedeckten Großmutter zurück, und unten in den Ecken seiner versilberten Fassung steckten verschiedene Karten mit Verlobungsanzeigen und Neujahrsgratulationen. Und da trat eben der alte Sauer herein. Sein Rock war nicht um Haarbreite kürzer geworden; Vatermörder und Nacken hielten sich stocksteif in unverminderter Harmonie, und sein Fuß machte genau die wohlbekannte, groteske Schwenkung, mittels welcher er zunächst den langen Rockflügel zurückwarf und dann die Thür hinter sich zutrat, wenn er etwas in den Händen trug. Er brachte die altmodische, silberne Theekanne und zwei wohlbekannte kostbare Täßchen von chinesischem Porcellan; der Farbenschmelz ihrer abnormen Gebilde war noch derselbe, aber die Kittadern in den Untertassen hatten sich wohl um einige vermehrt… Welche Fülle von Erinnerungen aus der Kinderzeit stieg in Lilli’s Seele auf, als ein liebliches Aroma dem langgebogenen, häßlichen Schnabel der Theekanne entquoll und das Zimmer durchduftete! Das war freilich nicht der kostbare Blumenthee, den Seine Majestät von China Höchstselbst zu schlürfen pflegt, nicht der feine Pecco, den das verwöhnte Kind der großen Stadt daheim trank, die Blätter der heimischen Walderdbeere waren es, die unter dem siedenden Wasser ihre Duftadern öffneten und gesunde, kräftige Säfte ausströmten. Bei Tante Bärbchen wurde nur dieser Thee getrunken, und wenn die alte Dorte gute Laune hatte, dann steckte sie auch noch einen Zimmetstengel hinein… Ja, und da drüben neben dem alterthümlichen Uhrgehäuse hingen richtig der Kalender und die altersbraune Elle, und hinter der Glasscheibe des wandhohen Holzkastens schwang der Perpendikel sein breites Sonnengesicht in sehr moderirtem Tempo; er ließ sich Zeit, der alte bequeme Herr, er konnte es ja haben in dem stillen, einförmigen Hause und hätte seinen gravitätischen Gang wohl auch nicht geändert, schon aus alter Freundschaft für Tante Bärbchens Spinnrad, das, ein verblichenes rosa Seidenband um die Flachslocken geschlungen, dort auf der Estrade am mittelsten Fenster stand. Es summte und schnurrte Jahr aus, Jahr ein, Sommer und Winter, und der Perpendikel meinte mit Recht, sein Tiktak und das Gesumme gäben eine schönere Harmonie, als ein Zwiegespräch zwischen ihm und Seinesgleichen.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Friedensbild im Kriege.


Wenn mitten im betäubenden Marktgewühl, im Schweiße und in der jagenden Hast und Angst des Alltagslebens unvermuthet ein voller Orgel- und Glockenton, der Zauber einer süßen Melodie unser Ohr berührt, wir werden ihm nicht wehren können, daß er zu unserm Herzen dringt und erquickend uns hinausträgt über das, was uns umgiebt. Und wenn im Dahinwandern auf heißer, kampf- und mühevoller Lebensbahn der Sinn des Gebeugten erstarren, die Schwungkraft seines Gemüths erlahmen will und plötzlich der frische Hauch des Waldes seine Stirn umweht, sein Blick auf die lachenden Höhen, die lichtgrünen Fluren und Thäler einer still vor ihm sich ausbreitenden Landschaft fällt, er wird den lieblichen Eindruck nicht hindern können, daß er lindernd und aufrichtend, beruhigend und stärkend die Seele von dem Drange und der Noth des Augenblickes abzulenken sucht. Es ist die Aufgabe des Menschen, im gluth- und sturmvollen Wettkampfe des Lebens seine Kraft zu üben. Aber tief im Innersten seiner Brust lebt als ein ewiges Gesetz, oft umnebelt nur vom Dampf und Dunst der Leidenschaft, die unvertilgbare Sehnsucht nach dem Frieden, das wehmuthsvolle Zeichen seiner göttlichen Abkunft. Mag der Boden unter seinen Füßen wanken und unter dem Sturm eines hereinbrausenden Weltgerichts der letzten Säule seines Daseins der Einsturz drohen; mag wilder Kriegslärm ihn umtosen und sein Geist mit Inbrunst und Selbstverleugnung nur der Gefahr des Vaterlandes, den großen Fragen des Tages zugewendet sein: es kommen mitten im Streit und Zwiespalt der Ueberzeugung und Leidenschaft doch Augenblicke, wo die hochgehende Welle des Blutes sich zu sänftigen und der alte Traum vom stillen Glück, der unsterbliche Zug nach Natureinfalt und harmlos-gemüthvoller Existenz seine urwüchsige Macht zu zeigen beginnt. Bilder voll süßer Ruhe und traulicher Abgeschiedenheit steigen dann vor dem Auge des Ermüdeten auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_420.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)