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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Ei, ei,“ dachte der Doctor bei sich, „nun muß ich gar noch mildernde Umstände herbeibringen!“ Laut sagte er: „Ich gebe Dir Recht im Großen und Ganzen. Wahre Wissenschaft gedeiht besser in freier Luft und im praktisch gestaltenden Lebensverkehr, als hinter Klostermauern und hinter den verdüsternden Scheiben der Zelle. Dennoch sollte ich meinen, daß die Euch gegönnte Muße –“

„Nein, nein, diese Muße ist gar nichts werth. Diese Herbergen des Müßigganges haben gar keine Entschuldigung mehr. Welche wissenschaftliche That ist wohl seit Jahrhunderten aus einem Kloster hervorgegangen? Ich weiß keine. Das ganze mönchische Streben zielt von jeher nur auf todten Gedächtnißkram, auf den Nimbus von weltlicher Enthaltsamkeit und ist wenig mehr als ein leerer Schein. Wir leben im allerentschiedensten und dabei im ermüdendsten Müßiggang, und diesem Müßiggange wird, zur bitteren Verhöhnung der Vernunft, das Prädicat der Gottseligkeit beigelegt.“

„Mit solchen Ansichten mußt Du Dich allerdings hier sehr unglücklich fühlen und die Stunde beklagen, wo Du hier eintratest …“

„Meine Geschichte ist die vieler Anderer,“ erwiderte der Priester. „Wer zuerst das Tageslicht erblickte hinter den dicken Mauern eines Bauernhauses, dessen einziger Wändeschmuck Heiligenbilder waren; wer als Knabe im Herrn Beneficiaten den Inbegriff aller Größe und Gelehrsamkeit zu verehren gewohnt war; wer eine Mutter hatte, deren einziges Lesebuch die Legende der Heiligen war und die keinen höheren Wunsch kannte, als in ihrem Sohn einen Diener des Herrn zu sehen – nun, der kommt so herein, er weiß selbst nicht, wie! Mit zwanzig Jahren trat ich in’s Seminar. Zuerst fühlte ich mich unaussprechlich glücklich; ich glaubte, den Himmel auf Erden gefunden zu haben, aber dies dauerte nicht lange. Der Novizenmeister war das Muster eines Mönches. Er selbst hatte jede menschliche Regung in sich ersticken gelernt, er forderte ein Gleiches von uns. Ich war schon tief unglücklich, als die Zeit der Ablegung des Gelübdes herankam, aber wo sollte der junge Mensch, dem der Wille gewaltsam abgetödtet war, die zum Verlassen des Klosters nöthige Kraft der Entschließung finden? Ich legte das Gelübde ab. Im aufreibenden inneren Kampfe vergingen mehrere Jahre. Ach, wie viel Zeit und Kraftanstrengung ist nöthig, ehe sich ein Geist den Fesseln entwindet, die Erziehung und zum Glaubenssatz erhobener Wahn um ihn windet! Zuletzt glaubte ich doch herausgefunden zu haben, was die eigentliche Bestimmung des Menschen sei. Ich wendete mich um Rath an meine Collegen. Die wichen meinen Fragen aus, aber wie vielsagend war dieses Ausweichen! Kurz, allein habe ich gerungen, allein mich durchgekämpft, so daß ich nun, am Rande der dreißiger Jahre, das directe Gegenstück von dem bin, der ich mit zwanzig Jahren war; doch genug, ich hoffe, was ich Dir da gesagt, wird unter uns bleiben.“

„Gewiß, gewiß!“

„Seitdem begleite ich alle Anstrengungen Jener mit meinen besten Segenswünschen, welche daran arbeiten, die Bastillen zu brechen, in denen wir gefangen sitzen und die selbst zu zerbrechen wir zu schwach sind. Wenn sie einen Druck auf die öffentliche Meinung und durch diese auf die alten noch immer regierenden Gewalten üben, sind sie nicht unsere besten Wohlthäter? Meine Billigung hast Du und haben Alle, die Deiner Meinung sind, und für die heimliche Zustimmung der Mehrzahl meiner Mitgefangenen kann ich Dir bürgen.“

Eine Glocke rief und Pater Sebastian eilte mit raschem Abschied fort. Zugleich erschien die Gesellschaft, die den Doctor so lange allein gelassen hatte. Als dieser den lachend grünen Bergabhang hinabschritt, dachte er still bei sich: „Wenn selbst die nichts von Klöstern wissen wollen, die darin leben, wär’s dann nicht an der Zeit, daß man die ‚todte Hand‘ begrabe?“




Ein Doppelstern am Kunsthimmel.


Motto: „Als ich zuerst Dich hab’ geseh’n –“

Eine „musikalische „Gesellschaft, im vollsten Sinne des Worts, versammelte sich an einem Decemberabend 1828 im Hause des Professors der Medicin, Dr. Carus, zu Leipzig. Der Kreis der Eingeladenen war diesmal größer als gewöhnlich und das sonst so heitere Quartett von jungen Musikern und Studenten schien in Folge dessen ein wenig verstimmt zu sein und hatte sich in einen Winkel neben dem Clavier zurückgezogen, die steigende Fluth der eintretenden Gäste mit besorgten Blicken beobachtend. Die beiden nicht sehr großen Zimmer waren schon mit Damen und Herren gefüllt. Alle Musiknotabilitäten waren diesmal vertreten, als gälte es eine hochwichtige Prüfung abzuhalten. Da sah man unter Andern den alten verdienstvollen Concertmeister der Gewandhausconcerte und Stifter mehrerer Gesangvereine, den gelehrten Matthäi, den gesuchten Gesanglehrer August Pohlenz, den jungen Componisten Marschner, den Cantor Weinlig, den Cello-Virtuosen Carl Voigt, den berühmten Kanzelredner, Musiker und Kritiker Gottfried Wilhelm Fink, so wie den liebenswürdigen Hofrath Rochlitz, Herausgeber der Leipziger musikalischen Zeitung. Unter den Frauen erregten die größte Aufmerksamkeit die ausgezeichnete Sängerin Henriette Weiße, geborene Schicht, und die hübsche, zum Besuch bei ihr anwesende Pianistin Perthaler aus Graz. Viele reizende junge Mädchen flatterten wie bunte Falter hin und her; es war ein Gewirr schöner Gestalten, ein Schwirren fröhlicher Stimmen, ein anmuthiges Lachen und Flüstern, das unwillkürlich an einen Frühlingstag erinnerte, mit hellem Himmel, goldenem Sonnenschein, Blätterrauschen und Vogelgezwitscher.

Die freundliche Wirthin, eine zarte Blondine, machte die Honneurs mit vollendeter Grazie, aber ihre sanften blauen Augen richteten sich doch oft, inmitten der Begrüßungen, Fragen und Antworten, mit dem Ausdruck gespannter Erwartung nach der Thür.

„Sie haben heut’ etwas Besonderes vor, wer’s doch wüßte,“ murmelte Einer der Studenten; „bist Du wirklich nicht eingeweiht, Schumann?“

Der Angeredete, der vor dem geöffneten Clavier Platz genommen, schüttelte den Kopf.

„So frage doch einmal!“ nahm ein Anderer das Wort, „mir wird ganz unheimlich, ich habe keine Lust mehr mitzuthun.“

„Nun ich denke, Ihr könnt Alle besser reden als ich; habt Ihr mich doch oft genug ausgelacht, weil ich die Worte schlecht zu setzen weiß!“ antwortete Robert Schumann und legte träumerisch die Hände auf die Tasten.

„Aber Du kannst in Tönen sagen, was Du willst,“ fiel der junge Täglichsbeck ein, „und Jeder versteht, was es heißen soll. Hast Du doch neulich uns Alle auf dem Clavier so deutlich abconterfeit, daß Jeder auf der Stelle wußte, wer gemeint war. Und dann den Professor K., den spielst Du ja ganz genau, man sieht ordentlich wie der geht, und den Professor H., den maltest Du auch, daß wir Alle sterben wollten vor Lachen; so thu’ doch jetzt einmal eine Frage an Frau Agnes. Das kann Dir doch unmöglich so sauer werden?“

In eben diesem Augenblick trat die jugendliche Wirthin zu der Gruppe der jungen Leute. Sie wurde von ihnen Allen schwärmerisch verehrt. In ihrem gastfreien Hause versammelte sich mehrmals in der Woche ein kleiner Kreis musikalischer Menschen, der mit dem lebhaftesten Vergnügen den Quartetts oder Trios der Studenten lauschte. Julius Knorr oder Robert Schumann übernahmen die Clavierpartie, Täglichsbeck die Violine, Glock das Cello und Sörgel fungirte als Bratschist. Da ging es denn immer heiter zu. Die Kritik war zwar im Grunde eine strenge, aber schöne Augen und lächelnde Lippen übten sie aus, und so trug sie nur dazu bei, den Eifer zu erhöhen und eine noch strengere Selbstkritik hervorzurufen. Schumann verkehrte noch öfter mit der Professorin Carus, als alle Andern; er begleitete den Gesang der anmuthigen Frau. Sie kannte den jungen Schwärmer bereits vor ihrer Verheirathung, als sie seine Vaterstadt Zwickau besuchte und ihre Stimme ihn zu den ersten Liedercompositionen begeisterte. Augenblicklich studirte sie mit ihm meist Schubert’sche Lieder, die er ihr zuerst voll Entzücken brachte und die eben anfingen sich Geltung zu verschaffen. Es war in dem Carus’schen Hause, wo man in Leipzig zuerst den „Erlkönig“, „am Meer“ und das „Ständchen“ singen hörte. Und heute besonders wollte Frau Agnes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_424.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)