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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Schubert’sche Lieder singen, zum Andenken an den genialen Meister der vor wenig Tagen erst zur ewigen Ruhe eingegangen; sie hatte das wunderbare: „am Tage aller Seelen“ und „der Wanderer“ gewählt. Als sie sich eben ihren jugendlichen Verehrern näherte, hob Schumann langsam den Kopf und sah zu ihr auf. Leise glitten die Hände über die Tasten. Es war eine zögernde, träumerische Melodie, die da auftauchte; die junge Frau neigte sich lauschend zu ihm herab, die langen blonden Locken fielen ihr über die Wangen. Voll schüchterner Grazie und zugleich kecken Humors war die kurze Weise, die jetzt plötzlich mit einem harpeggirenden Accord schloß.

„Was will man von mir wissen?“ lächelte Frau Agnes schalkhaft; „das war ja ein ordentliches Fragezeichen! Heraus mit der Sprache!“

„Er ist wirklich ein Hexenmeister, sie hat’s begriffen,“ murmelte Sörgel; „das macht ihm doch Keiner nach! Man möchte sich beinah vor ihm fürchten.“

„Beruhigen Sie alle Neugierigen,“ fuhr die liebenswürdige Wirthin fort, „ich habe heut’ eine Ueberraschung für meine Freunde und hoffe, man wird dankbar sein und sich an dem Wunder freuen, das sich enthüllen soll. Robert Schumann ist ja, so viel ich weiß, ein echter Wundergläubiger; ich denke, er wird diesmal voll Andacht die Kniee beugen. Ach, da ist es schon!“

Leichten Schritts eilte sie einem kleinen weißgekleideten Mädchen entgegen, das in Begleitung eines Mannes eben eintrat. Voll mütterlicher Zärtlichkeit schloß sie das Kind in ihre Arme und bewillkommnete mit der ihr eigenen, herzgewinnenden Freundlichkeit den Vater, den sie gleich darauf ihren Gästen als den Musiklehrer Wieck vorstellte. Robert Schumann blickte voll lebhaftesten Interesses zu dem Manne hin, dessen Geist, Tüchtigkeit und Energie man ihm so vielfach gerühmt. Wie gern hätte er sich ihm vorstellen lassen, wie gern mit ihm geredet! aber da waren Andere, die den neuen Gast in’s Gespräch zogen, der junge Student mußte warten. Er gehörte zudem zu den Schüchternen und Niemand war wohl schwerfälliger, wenn es sich um eine neue Bekanntschaft handelte, als eben er. Ein Besuch bei Fremden schien für ihn eine Qual und die Einleitungen, um ihn zu bewegen sich in einer Familie einführen zu lassen, glichen den feinsten diplomatischen Winkelzügen und währten oft Monate lang. So hatte Robert Schumann schon seit seiner Ankunft in Leipzig den sehnlichsten Wunsch, Friedrich Wieck kennen zu lernen, aber er wagte seinen Freunden gegenüber nicht von diesem Verlangen zu reden, aus Furcht, daß sie ihn, wie er scherzend zu sagen pflegte, „binden und packen“ und mit List oder Gewalt in das Haus des Musikers schleppen würden.

An jenem Abend verfolgte er den Unerwarteten und Interessanten auch nur mit seinen träumerischen Augen, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich ihm zu nähern. Man musicirte außergewöhnlich viel. Außer einem Quartett in E moll für Pianoforte und Streichinstrumente, von der Composition Robert Schumann’s, spielte er selbst mit seinem Freunde Knorr brillante Variationen zu vier Händen über ein Thema des Prinzen Louis Ferdinand. Henriette Weiße mit ihrer mächtigen Stimme sang Händel’sche und Gluck’sche Arien, die hübsche fremde Pianistin trug die C moll-Sonate von Beethoven vor und Frau Agnes Schubert’sche Lieder. Sie bezauberte heute mehr denn jemals Aller Herzen. Es war eine Stimme von seltener Lieblichkeit, ein Vortrag voll Seele und Poesie. Mitten in dem Sturm des Entzückens, der ihrem Gesange folgte, fiel der Blick ihres Begleiters auf ein süßes Kindergesicht, das dicht vor ihm auftauchte. Große blaue Augen schauten mit dem Ausdruck innigster Begeisterung zur Sängerin empor. Getroffen von dieser naiven Bewunderung ließ Robert Schumann unwillkürlich seine Hand über den dunkeln Scheitel des Kindes gehen und fragte: „Bist Du auch musikalisch, Kleine?“ Das Mädchen wendete sich langsam zu ihm; ein schalkhaftes Lächeln zuckte um ihren Mund, aber sie gab keine Antwort, denn in demselben Augenblick berührte die Hand ihres Vaters die zarte Schulter, und die Kleine wurde von ihm zu einer entfernten Gruppe entführt.

„Nun und das verheißene Wunder? Wo bleibt es?“ fragte Robert Schumann eine halbe Stunde später mit einem etwas mißmuthigen Zucken der Lippen.

„Dort offenbart sich’s, gieb nur Acht,“ antwortete sein Studiengenosse, der liebenswürdige Götte, und deutete auf das Clavier.

Da saß denn vor den Tasten ein kleines Mädchen, ein blasses Kind mit dunkeln Haaren, unbefangen und doch so bescheiden, und neben ihr stand Friedrich Wieck. Und plötzlich schlugen die zierlichen Händchen mit wunderbarer Kraft und Sicherheit die ersten Tacte der F moll-Sonate Beethoven’s an. War sie „musikalisch“, die kleine Clara Wieck?

„Was denken Sie von ihr, Schumann?“ fragte Agnes Carus mit strahlenden Augen, als die hochgehenden Wellen des Beifalls, der dem genialen Spiel des Kindes folgte, sich etwas gelegt. „Habe ich zu viel prophezeit? Habe ich Euch nicht ein Wunder gezeigt? Ist sie nicht eine kleine Fee?“

„Sie sah genau aus wie der Schutzengel, der daheim in meiner Mutter Stübchen hängt,“ antwortete er hastig und aufgeregt. „Aber wer lehrte sie so spielen? Was waren wir Andern neben ihr? Und was wird noch aus ihr werden? Ich will Clavierstunde nehmen bei Friedrich Wieck! Aber Sie müssen ein gutes Wort einlegen für mich! Gleich jetzt! O bitte, schlagen Sie mir’s nicht ab, lassen Sie uns zur Stelle mit ihm reden!“

Und Robert Schumann, der Leipziger Student, wurde für die Zeit seiner juristischen Studien der eifrigste Schüler des berühmtesten Musiklehrers der Stadt. Die kleine Clara aber trat wenige Tage nach jenem denkwürdigen Abend zum ersten Mal öffentlich in dem Concert der Pianistin Perthaler auf, begleitet und getragen von dem Jubel eines begeisterten Auditoriums. –

Es war fast vier Jahre später. Robert Schumann kehrte zum zweiten Mal nach Leipzig zurück, sein Leben hatte eine andere Wendung genommen, eine Wendung die ihn beglückte; nach manchem Kampf und Zweifel war die Entscheidung da: er wurde Musiker. Das Zeugniß Friedrich Wieck’s führte sie schneller herbei, als der junge Mann zu hoffen gewagt. Voll dankbarer Freude schloß er sich nun um so wärmer an diesen seinen ersten Lehrer an und studirte und übte mit einem Eifer, der seine Freunde oft um seine Gesundheit besorgt machte. Unablässig bemühte er sich zunächst eine gewisse Fingerfertigkeit zu erlangen und stellte, da die Resultate seines Fleißes ihn nicht befriedigten, endlich ganz im Geheimen[1] die gewagtesten gymnastischen Uebungen an, um seinen Fingern die ersehnte Gelenkigkeit zu verschaffen. Man erzählte von ihm, daß er sogar wunderliche Marterinstrumente erfunden, in welche er, bei verschlossenen Thüren, seine Hände einschraube. Aber anstatt das erwünschte Ziel zu erreichen, fühlte der junge Musiker vielmehr zu seinem Schrecken, daß eine lähmende Schwäche allmählich seine rechte Hand beschlich und besonders der mittlere Finger völlig unbrauchbar wurde. Die Uebungen mußten nun ruhen. Der Arzt verbot jede anstrengende Bewegung der kranken Hand. Welch’ ein Kummer! Eine Sängerin, die das Schwinden ihres kostbarsten Kleinods, ihrer Stimme, gewahrt, konnte sich nicht mehr betrüben und ängstigen. Man wollte doch den wunderbaren Chopin spielen, dessen Compositionen eben wie leuchtende Sterne auf dem dunkeln Grunde eines Nachthimmels heraufzogen. Und dazu lahme Hände!

An einem warmen Sommermorgen geschah es mitten auf dem Leipziger Marktplatz, daß Robert Schumann, eine Notenrolle unter dem Arm, in Sturmschritt an seinem Lehrer Friedrich Wieck vorbeirannte, ohne ihn zu sehen.

„Wohin so eilig?“ Und ein langer Arm streckte sich wie ein Schlagbaum aus.

Der Angeredete blieb stehen. „Um Verzeihung, ich komme soeben von Breitkopf und Härtel und habe mir ein neues Opus von Chopin geholt. Hier Masurken op. 17, ein Walzer op. 18, und eine Polonaise. Ich habe sie alle gelesen und möchte vor Verzweiflung weinen oder – in’s Wasser gehen.“

„Warum?“

„Daß ich sie nicht geschrieben habe und – daß ich sie nicht spielen kann.“

„Borgen Sie sich ein paar Hände, oder lassen Sie sich die Sachen von irgend Jemand anders spielen! Geben Sie mir die Noten mit und kommen Sie ein Stündchen zu uns, heute Abend; die Clara mag ein Stück davon versuchen.“

Mit einem Seufzer legte der junge Musiker die Notenrolle in die Hände Wieck’s. „Ich komme gern,“ sagte er leise, „aber was sollen die kleinen Finger der Clara mit dieser wilden Musik? Ich kann noch nicht fertig werden mit ihr – es ist, als ob ich in einem Walde mich verirrte bei Nachtzeit, wo Irrlichter tanzen!

  1. Siehe Joseph von Wasielewsky, Biographie Robert Schumann’s.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_425.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)