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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Nähe von Dresden wurden verschiedene Schanzen aufgeworfen, wozu man Hunderte von Arbeitern aus Berlin hatte kommen lassen, und es hieß, daß man bei diesem Schanzenbau an manchen Stellen auf wohlerhaltene Schädel und Menschenknochen gestoßen sei. Es waren dies wahrscheinlich die Gebeine gefallener Krieger, welche nach der Schlacht bei Dresden am 26. und 27. August 1813 hier ihr gemeinsames Grab gefunden hatten. Ein entscheidendes Kriegsjahr hatte sie dem Schooß der Erde übergeben, ein nicht minder verhängnißvolles Kriegsjahr brachte sie wieder an das Licht der Sonne.

Es war am 6. Juli d. J., als ich hinausging, um mit eigenen Augen die Schanzarbeiten und die ausgegrabenen Gebeine anzusehen. Da es noch nicht spät war, als ich von diesem traurigen Ausfluge wieder heimkehrte, so beschloß ich, einem der verschiedenen Hospitäler, die in Dresden errichtet worden, einen Besuch abzustatten. Bei meinem Eintritte in das Hospital erblickte ich mehrere Damen, Frauen und Mädchen, die ebenfalls in die weiten Räumlichkeiten, welche mit verwundeten Preußen, Oesterreichern und Sachsen angefüllt waren, Einlaß begehrten. Nicht weit von mir saß, leidend und schwach, Fräulein Elise Martins. Einer der dienstthuenden Aerzte näherte sich ihr, vielleicht durch den Mitleid erregenden Schmerz, der sich in ihrer ganzen Haltung aussprach, dazu bewogen, und redete sie freundlich und mit theilnehmenden Worten an. Das junge Mädchen ergriff convulsivisch die Hand des Arztes und bat in wahrhaft rührender Weise: „Wenn Sie hier einigen Einfluß besitzen, mein Herr, so verschaffen Sie mir Einlaß zu den Verwundeten. Mein Bruder ist da drinnen, er ist schwer verwundet und ich möchte ihn so gern sehen und sprechen. Es ist schrecklich, ihm in seiner Noth so nahe zu sein, und doch so lange warten zu müssen, bevor ich zu ihm kommen und seine Leiden mildern kann.“

Der Arzt fragte nach ihrem und ihres Bruders Namen; nachdem er die Namen erfahren und eine in einem Buche verzeichnete Liste durchgesehen hatte, erwiderte er: „Ja, mein Fräulein, Ihr Bruder befindet sich, wenn ich nicht sehr irre, in diesem Hospitale; er scheint ein braver, junger Mann zu sein, aber er ist schwer, sehr schwer verwundet.“

„Er ist doch nicht tödtlich verwundet,“ rief mit angstvoll gepreßter Stimme die liebende Schwester, „o Gott, er ist doch nicht bereits todt?“

„Er lebt,“ beruhigte der Arzt, und fügte in ernster Weise hinzu: „treten Sie ein, mein Fräulein, doch nähern Sie sich ihm vorsichtig, oder besser, lassen Sie ihn durch eine der Wärterinnen auf Ihre Ankunft vorbereiten.“

Ich folgte dem jungen Mädchen nicht, denn ich wollte das erschütternde Wiedersehen in keiner Weise stören; ich ahnte die traurige Wahrheit und das geschehene Unglück, welches nunmehr durch Menschenmacht nicht abzuändern war. Ulrich Martins hatte, wie ich von dem menschenfreundlichen Doctor erfuhr, eine gefährliche Schußwunde durch die Brust erhalten und man hegte keine Hoffnung für seine Wiederherstellung; doch konnte ihm sein Leben bei richtiger Behandlung und guter Pflege immerhin noch längere Zeit gefristet werden.

Nach Verlauf von ungefähr zehn oder zwölf Tagen führte mich theils ein Auftrag meiner Frau, theils das Mitgefühl mit dem Unglück in die Wohnung meiner jungen Freundin. Ich fand dieselbe in tiefer Trauer, aber gefaßt und wunderbar ruhig an der Seite ihrer Mutter, einer alten, achtbaren Matrone. Es war nämlich den dringenden Bitten der Schwester gelungen, den schwer verwundeten Bruder aus dem Hospitale herauszubekommen und in die Wohnung der Mutter gebracht zu sehen. Ein möglicherweise wohlthätiger Schlaf hatte, gerade bevor ich eingetreten war, den Todkranken auf eine kurze Zeit seine Schmerzen vergessen lassen, und Mutter und Tochter saßen in der an das Krankenzimmer stoßenden Wohnstube, eifrig mit Charpiezupfen beschäftigt.

„Sehen Sie,“ sagte Elise, nachdem ich, ihrer Einladung folgend, auf einem mir freundlich angebotenen Stuhle Platz genommen hatte, „sehen Sie, daß meine Ahnung, die mir am 16. vorigen Monats, das Herz so schwer machte, nur zu schnell zur bittersten Wahrheit geworden ist. Zwar habe ich meinen Bruder wiedergesehen, aber welch’ ein Wiedersehen war dies! O, ein Hospitalzimmer voll verwundeter Menschen ist an sich schon ein grausiger und herzerschütternder Anblick, in welch’ erhöhtem Maße ist dies aber erst der Fall, wenn man einen geliebten nahen Verwandten, wenn man einen Bruder unter den dort leidenden Verwundeten sucht und findet! Ich weiß,“ fügte sie hinzu, „daß Sie Mitgefühl mit meinem Schmerze haben, und ich will Ihnen daher das traurige Schicksal meines einzig geliebten Bruders, wie er es selbst in Zwischenräumen – soweit seine Schwäche es zuließ – mir erzählte, mittheilen. Fürchten Sie nicht,“ sagte sie, einige Bemerkungen meinerseits widerlegend, „daß eine solche Erzählung mich zu sehr aufregt oder angreift, im Gegentheil, es beruhigt mich, wenn ich von meinem Ulrich zu Jemandem reden kann, von dem ich weiß, daß er meinen Schmerz mitfühlt und denselben zu würdigen versteht. Meine gute Mutter hat einen nothwendigen Gang, den ich ihr nicht gut abnehmen kann, von dem sie indessen bald zurückkehren wird, zu thun, und so würde es mir sogar sehr lieb sein, wenn Sie mir in deren Abwesenheit Gesellschaft leisten wollten.“

Ich erfüllte gern Elisens wehmüthige Bitte und blieb. Die alte Frau verließ uns nach wenigen Minuten und die Tochter erzählte mir nun Folgendes: „Mein Bruder erhielt seine Schußwunde in der Schlacht bei Gitschin (böhmisch Jicin.) Die Heeresabtheilung, zu welcher er gehörte, war auf einem Höhenzuge zwischen den Dörfern Brada und Diletz, nördlich von Gitschin und nahe der nach Turnau führenden Landstraße, aufgestellt. Am Nachmittage des unseligen 29. Juni griffen die Preußen mit voller Energie die feste Stellung, welche die Unsrigen bei Diletz genommen hatten, an; ein gewaltiges Granatfeuer empfing sie und schmetterte Tod und Verderben in ihre Reihen. Es ist bekannt, wie außerordentlich brav sich auch dort die Sachsen geschlagen haben. Allein auch die Preußen führten bald ihre Geschütze – um mit den Worten meines Bruders zu reden – gegen uns auf, und nun begann ein grausiges, die Erde erschütterndes Kanonenconcert. Trotz der muthigsten Gegenwehr von unserer Seite drangen die Preußen vor und richteten ihren Angriff direct gegen das Dorf Diletz, welches – wie mein Bruder meint – vornehmlich von sächsischen Bataillonen besetzt war und auf das Hartnäckigste vertheidigt wurde. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht in den Reihen unserer Soldaten, daß König Johann selbst in der nächsten Nähe des Kampfes sei und die Gefahren seiner tapferen Krieger theilen wolle. Dies Gerücht trug aber nicht wenig dazu bei, daß sich unsere Sachsen in und bei Diletz mit so verzweifeltem Muthe schlugen. Das Sausen der Granatsplitter und das Pfeifen der Flintenkugeln, die hageldicht durch die Luft flogen, soll hier wahrhaft entsetzlich gewesen sein, noch entsetzlicher aber der Anblick und das Geschrei der verwundeten und sterbenden Thiere und Menschen. Aber noch immer war mein Bruder unversehrt geblieben, während die Hauptleute Fickelscherer und Klette, sowie auch der durch manche Eigenthümlichkeiten seines Wesens bekannte Hauptmann von Rex bereits im Kampfgetümmel gefallen waren und die Obersten von Boxberg und Ludwiger schwer verwundet auf dem blutgetränkten Schlachtfelde lagen. Unsere braven Soldaten vertheidigten mit wahrem Löwenmuth jede nur irgend haltbare Position; doch der Andrang der Preußen, die sich ebenfalls mit beispielloser Bravour schlugen, war unwiderstehlich. Das Dorf Diletz ging verloren und die Unsrigen wurden zum Rückzuge nach Gitschin gezwungen, wobei nun auch meinen Bruder sein Geschick ereilte. Das Kleingewehrfeuer der stets rasch und unaufhaltsam vorwärts dringenden Preußen war fürchterlich und ihre Zündnadelbüchsen lichteten die Reihen der Unsrigen in grauenhafter Weise. Die Kugeln flogen so dicht, sagt mein Bruder, daß es war, als wenn bleierner Sand haufenweise über die langsam sich zurückziehenden Sachsen und Oesterreicher ausgestreut worden wäre. Der Nebenmann Ulrich’s ward durch den Schenkel geschossen und rief ihn flehentlich um Hülfe an, aber gerade als er sich bückte, um dem verwundeten Freunde und Kampfgenossen beizustehen, traf ihn selbst die mörderische Kugel.“

Hier mußte Elise in ihrer Erzählung innehalten. Das Schmerzgefühl übermannte das starke Mädchen für einen kurzen Augenblick. Sie ging nach dem Krankenzimmer, um, wie sie vorgab, nachzusehen, ob etwa ihr Bruder auch aufgewacht sei und nach ihr verlange. Sie kam indessen bald zu mir zurück und fuhr also fort: „Was soll ich Ihnen nun noch weiter erzählen, lieber Doctor? Mein Bruder hatte, da die feindliche Kugel ihn nur zu wohl getroffen hatte, sein Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, befand er sich, mit Blut überströmt, neben vielen anderen sächsischen und österreichischen Verwundeten in dem alten, wie man

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_474.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)