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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

durch’s Herz, wenn ich daran denke, daß ich einmal als ganz kleines Kind gefragt habe: ‚Vater, warum haben denn alle Kinder zwei Aermchen und ich nur eines?‘ Und wenn ich hundert Jahre alt werde, ich vergesse es nicht, wie da sein liebes, ernsthaftes Gesicht kreideweiß wurde und sich so schrecklich veränderte, daß ich laut aufschrie und zu weinen anfing. Ich habe nie wieder gefragt, aber von der Zeit an, wenn mich Andere mitleidig ansahen, zitterte ich jedesmal aus Angst, er könnte es bemerken und sich darüber grämen. Später ließ er mir einen künstlichen Arm machen, er sah täuschend aus, kostete schweres Geld und gab mir die strenge Lehre, daß alles Falsche sich rächt… Siehst Du, mein Kind, das sind jetzt weit über dreißig Jahre her, und ich weiß noch auf’s Jota, wie mir damals zu Muthe war. Ich war ein häßlich Ding, hatte ein grob zugehauenes Gesicht, eine plumpe Taille und konnte mich niemals so recht in das finden, was man zierliche Manieren nennt. Ich wußte das Alles so genau, wie es mein ärgster Feind nicht besser hätte wissen können, und das machte mich vollends eckig, und weil ich die Wahrheit liebte, so war ich auch noch grob dazu… Es tanzte Keiner gern mit mir, und wenn es mir auch nicht gerade passirte, daß ich Kohl feil halten mußte auf den Bällen, so geschah das nur, weil mein Vater ein reicher und angesehener Mann war… Drum war mir’s auch gar verwunderlich, daß sich einmal Einer fand, von dem ich merkte, daß er sich gern mit mir unterhielt; er war fremd und kam von Zeit zu Zeit in Geschäften hierher und auch in meines Vaters Haus. Er kam gern und blieb auch immer länger da, als just nöthig war; das hatte ich schnell weg und auch, daß es um meinetwillen geschah, und dafür war ich ihm dankbar über die Maßen… Aber da kam er einmal auch, er war lange fortgewesen; ich begegnete ihm in der Hausflur und es war mir gar eigen zu Muthe, wie er mich so herzlich froh ansah; dabei griff er schnell und unversehens nach meiner Hand – es war die linke, falsche… Es ist immer ängstlich, wenn man Andere zum Tode erschrecken sieht, aber in dem Augenblicke war es doch gerade, als sollte mein Herz still stehen vor Bestürzung, denn er stand vor mir mit einem Gesicht, so weiß, wie der Kalk an der Wand; ich glaube gar, er bekam eine Art von Schwindel oder Ohnmacht vor Schreck und Abscheu. Er stierte mich entsetzlich an und schleuderte das unselige Machwerk von Pappe weit von sich, als sei es eine Natter… Damals sah es schrecklich aus in mir, aber ich hab’ die Zähne zusammengebissen und mein ganzes Wesen wohl behütet, und so ist mein Vater gestorben und hat nie erfahren, was ich für ein großes Herzeleid durchgemacht habe. Den Arm aber habe ich auf der Stelle weggelegt; ich hatte meine Strafe für den Betrug!“

„Und jener Mann, Tante?“ fragte Lilli bewegt.

„Nun, der ist damals gleich in der Hausflur umgekehrt, zur Thür hinausgegangen und eine lange Zeit nicht wiedergekommen. … Er hat später eine meiner Freundinnen geheirathet,“ erwiderte die Hofräthin beinahe barsch; sie wollte offenbar einen leichten Ton anschlagen, und das gelang der unbiegsamen, kräftigen Stimme nicht.

Tante Bärbchens Mittheilung und mehrfache, daheim gehörte Andeutungen ließen dem jungen Mädchen keinen Zweifel, daß jener Mann ihr eigener Vater gewesen sei. Und wie hatte ihm die unglückliche Verkürzte jene schmerzensreiche Erfahrung vergolten? Sie war ihm eine treue Freundin geblieben unter allen Verhältnissen, und als er einst durch mißglückte Speculation – er war Bankier – am Rand eines Abgrundes gestanden, da hatte sie ihm ihr ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt und ihn gerettet. Sie war daher auch stets ein Gegenstand großer Verehrung für Lilli’s Eltern gewesen; die Mutter hatte Lilli, als Tante Bärbchens Liebling, noch auf dem Sterbebett ermahnt, die alte Freundin nie wissentlich zu betrüben und ihr nach Kräften das Leben froh und heiter zu machen.

„Ja, ja, es weiß Keiner besser als ich, was der feste Wille über ein rebellisches Herz vermag,“ setzte die Hofräthin nach einer Pause hinzu. „Aber es ist ein ganz ander Geschlecht heut’ zu Tage; mit der körperlichen Gesundheit hapert’s immer mehr, und da sieht’s dann auch in den meisten Fällen um die rechte Kraft der Seele mißlich aus. Das liebe Ich steht obenan, und die stillschweigend gebrachten Opfer im weiblichen Gemüth werden immer seltener.“

Lilli hatte den Kranz vollendet und legte ihn mit einer hastigen Geberde auf den Tisch. Auf ihren Wangen brannte eine tiefe Gluth und um die festgeschlossenen Lippen legte sich ein Zug von trotziger Entschlossenheit. Bei Tante Bärbchens letztem Ausspruch war plötzlich die Frage in ihr aufgetaucht, wie sie wohl selbst aus einem schweren Herzensconflict hervorgehen würde. Ungerufen, aber nichtsdestoweniger beharrlich, standen sofort jene düsterflammenden Augen vor ihr, und seltsam durchschauert von einem Gemisch schamhafter Scheu und einem ihr völlig neuen, unbekannten Glücksgefühl dachte sie zum ersten Mal, wie es werden könnte, wenn der da drüben frei, vollkommen frei, ihr seine Hand böte, und da lagen auch sofort Zerwürfnisse vor ihr, in die sie schaudernd blickte wie in einen bodenlosen Abgrund… Das Wort „Kampf“ war für sie bis dahin eigentlich vollkommen bedeutungslos geblieben. Rein und ungetrübt wie ein klarer, geschützter Wasserspiegel, zu dem die Stürme nicht eindringen konnten, hatte ihre junge Seele der Welt zugelächelt; nur einmal waren dunkle Wolken darüber hingezogen, das war, als ihre Mutter starb; ein Schicksalsschlag, der Schmerzen, aber keinen Kampf mit sich brachte. Vergöttert von ihrem Vater hatte sie stets mühelos das erlangt, was ihr wünschenswerth war, und traf sie ja einmal auf Widerstand, so bedurfte es eines Schmeichelwortes, einer kleinen Schelmerei ihrerseits, um den väterlichen Beschluß umzuwandeln. Sie hatte deshalb auch noch gar keinen Maßstab für die Tragkraft ihrer Seele gegenüber einem fast übermenschlichen Opfer… In der einen Wagschale lag ja auch in diesem Augenblick nur ein Phantom, der süße Traum von Glückseligkeit, in der anderen dagegen die Wirklichkeit, Tante Bärbchens Ansprüche auf ihre Dankbarkeit und Hingebung. Und darum siegte schnell die Ueberzeugung, daß die Tante in einem solchen Kampf niemals die Unterliegende sein dürfe. Sie war ja die Retterin der Familienehre, ihr allein war es zu danken, daß Lilli und die Ihren jetzt in sorgenfreien, ja glänzenden Verhältnissen lebten; sie hatte mit nie ermüdender Geduld und Ausdauer am Lager ihres kranken Lieblings gewacht, wo die mütterliche Pflege erlahmte – das Phantom versank in diesem Moment rettungslos.

„Tante Bärbchen, Du lachst immer über meine zerbrechliche Gestalt,“ sagte Lilli trotzig, „und magst wohl denken, mit der Seelenstärke sähe es auch nicht viel besser aus … glaube das ja nicht; ich würde genau so handeln wie Du!“

„Oho, Kind, Du sprichst da wie der Blinde von der Farbe!“ lachte die Hofräthin. „Närrchen, was weißt denn Du von Herzenskämpfen! Hast ja noch einen Puppenspielwinkel in Deiner Stube! Uebrigens, Gott mag Dich behüten, daß Dir niemals dergleichen Conflicte nahe treten,“ fügte sie weich hinzu und strich liebkosend über das reiche Haar des jungen Mädchens, „es sähe dann doch wohl übel aus um meine kleine Mondscheinprinzessin!“

Das Gespräch wurde durch einen Besuch unterbrochen. Ein junger Kaufmann aus der Stadt, der Sohn einer mit Tante Bärbchen befreundeten Familie, war von einer Reise nach Paris zurückgekehrt und wollte seine Aufwartung machen. Mit der Tournüre eines Weltmannes trat er in die Laube, die sich sofort mit dem Duft eines starken Parfüms füllte. Von der Frisur bis herab zur Chaussure repräsentirte der an sich ganz hübsche junge Mann die allerneueste Modelaune des modernen Babels, und ein Phrasenstrom, stark untermischt mit französischen Brocken, floß wie Honigseim über seine Lippen. Nach Tante Bärbchens schlichter, ergreifender Erzählung machte dies geschraubte, oberflächliche Wesen einen doppelt widerlichen Eindruck auf Lilli. Sie beantwortete seine an sie gerichteten Trivialitäten höchst einsilbig und war sehr froh, als die Hofräthin sie nach einer Weile mit dem Auftrag hinausschickte, ein Bouquet für die Mutter des jungen Herrn abzuschneiden. Allein zu ihrem Verdruß verabschiedete er sich gleich darauf von Tante Bärbchen, schritt neben ihr her und lispelte bei jeder Blume, die sie abschnitt, eine fade Schmeichelei. Zornig riß sie endlich eine halb abgeblühte, häßliche Pechnelke ab, steckte sie in das Bouquet und reichte ihm dasselbe mit abgewendetem Gesicht hin. Ohne Zweifel viel zu eitel, um Lilli’s Geberde zu verstehen, haschte er nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen.

In demselben Augenblick scholl es wie ein zerschmetternder Schlag durch die Lüfte, dem das Klirren niederstürzender, auf Steinpflaster zerschellender Glasscherben folgte. Lilli wandte sich jäh und bestürzt um nach dem Thurm des Nachbarhauses, denn von dort her kam der Lärm. In zahllosen Splittern taumelten eben die letzten glitzernden Reste des nördlichen Thurmfensters herab – verschwunden, in Atome zerstäubt waren die poesievollen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_482.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)