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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Selbsteinschließung vor. Der nothwendigste Verkehr mit der Welt erfolgte durch ein klösterlich-kleines Schubfenster in der Hausthür. Dennoch ersahen sich die vierfüßigen Gefangenen eines Tages die Gelegenheit, einen Ausfall aus der Festung zu machen und, ihren natürlichen Trieben folgend, erklärten sie den Beinen des Straßenpublicums erbitterte Fehde. Dies führte zu Ansprüchen wegen „Schmerzensgelder“, und die Einsiedlerin hatte eine ansehnliche Summe für diese „kleinen Unarten“ ihrer „Engel“, wie sie sich äußerte, zu entrichten.

Auch an modernen Parodieen jener alten Einsiedler fehlt es nicht, die sich ehemals mit einer Bibel und einem Todtenkopf in irgend eine Höhle zurückzogen, um jenen langsamen Selbstmord an sich selbst zu begehen. Dieser „Selbstmord“ ist in England gar nicht so selten. Er entspringt in modernen Tagen aus der ausgesuchtesten Selbstsucht, und ein englischer Criminal-Psychologe erklärt den Einsiedler in unseren Tagen für einen größeren Versündiger, als den, welcher sich mit der Kugel das Hirn ausblase. Die Reihe von Beispielen wäre unerschöpflich. Da ist der Einsiedler in der Dachstube, in den feinen chambres garniers, oder der, welcher sich in ein ganzes Haus einschließt und meist ein Maximum von halbverrücktem Egoismus mit einem Minimum von Reinlichkeit verbindet.

In einem Hause in einer Nebenstraße des Strand, dieser riesigen Verkehrsader Londons, wo zu manchen Stunden des Tags kaum Ellenbogenraum zu finden, lebte bis vor Kurzem ein ehemaliger Rechtsgelehrter, welcher, obwohl im Besitze eines großen Vermögens, im besten Mannesalter aus der Welt der Lebendigen verschwand. Er lebte fortan in jenem Hause volle zwanzig Jahre, ohne daß ihn Jemand zu Gesicht bekommen, ausgenommen am Neujahrstage, wenn er seiner Vermögensangelegenheiten wegen sich für wenige Stunden in die Straße wagte, um mit seinem Banquier oder Sachwalter zu sprechen. Heimgekehrt, verschwand er sofort wieder auf volle zwölf Monate jedem sterblichen Auge. Seine Speisen wurden von einer Nachbarin, welche sich mit einem Schlüssel in das Haus einlassen durfte, in ein Vorzimmer gestellt, damit er sie sich selber hole. Auch verweilte die Bringerin nur wenige Minuten in dem unheimlich öden Hause, das der einsame Mann nie zu reinigen erlaubte. Der Staub sammelte sich in Hügeln auf den kostbarsten Teppichen und Meubles. In einem Hinterzimmer „wohnte“ er, wenn das „Wohnen“ genannt werden kann. Als im vorigen Sommer die Nachbarin zwei Tage hindurch die Schüsseln unberührt vorfand, mischten sich die Nachbarn des „Spukhauses“ in die Sache und – die Polizei. Man fand den einsamen Nabob todt in seinem Schreibsessel, wie immer in ein feinstes Schwarz gekleidet, inmitten eines Chaos von alten Proceßacten. Deren Studium mochte – da er nur in der Vergangenheit lebte – die einzige Zerstreuung für ihn gewesen sein, denn die Bücher in seiner Bibliothek bewiesen durch das Vorhandensein dichter Schleier von Spinnweben, daß sich seit Jahren keine Hand nach der Literatur ausgestreckt hatte. Ein Theil des Zimmers war mit einem Berg von ungebrauchten Stiefeln jeder Façon angefüllt; ein Papierkorb enthielt mehrere Hundert Silberlöffel, und das Gerippe einer Hauskatze fand sich neben einem großen Wandspiegel vor. Dieser Spiegel stand dem Schreibtische gegenüber, so daß der Davorsitzende seit zwanzig Jahren die Veränderungen in seinem Leben stündlich selbst wahrnehmen konnte, wie die Haare ergrauten, die Züge verwelkten, das Auge trüber wurde; allein und einsam in dieser furchtbaren Stille, wo er den Schatten zugetrunken, denn eine große Zahl geleerter Flaschen, die einst edlen Wein beherbergt, fand sich in allen Zimmern zerstreut. Auch der Katze, seiner einzigen Genossin, mußte trotz ihrer zähen Natur die Geduld ausgegangen sein, so daß sie den egoistischen Schwärmer verließ, d. h. starb, und nur ihr präparirtes Gerippe als Andenken aufbewahrt wurde. Die Phantasie eines Dickens vermöchte kaum den seltsamen Neujahrstag zu schildern, die nervöse Erregung, mit welcher der Einsiedler sich auf einige Stunden mitten in das Gewühl der Weltstadt begab, von den Ungeduldigen aus dem Wege geschoben, kaum bemerkt von den wenigen Müßigen, deren es in London giebt, von den Kindern scheu geflohen, immer, wie in seinem Studirzimmer, mit einer Eleganz gekleidet, als wäre er zur Hoftafel befohlen.

Weniger düster, aber nicht weniger seltsam, erscheint solche Existenz in der Stille des Landlebens. Auch dort hat der Spleen dieser Gattung seine Anhänger. Man hat zwar seit Langem dort keinen „wilden Mann“ eingefangen, wie einst in Devonshire, welcher von Wurzeln und Kräutern lebte und wie ein Affe in den Bäumen wohnte. Doch ausgestorben ist die Classe nicht ganz, und hört man seltener von ihr, so liegt dies an dem Umstande, daß man in England viel zu viel mit den Lebendigen zu thun hat, als sich um die zu kümmern, welche in der grausigen Selbstgenügsamkeit des Einsiedlerlebens aus der Misanthropie einen Sport machen.

Unser Bild zeigt einen der hartnäckigsten Einsiedler, welcher noch bis zu dieser Stunde wie eine Naturmerkwürdigkeit von Neugierigen „besichtigt“ werden kann. Ungefähr drei englische Meilen von dem Seebade Seaton Carew[WS 1], unweit der Mündung des Flusses Tees, findet sich viel öder Grund. Es ist eine weite flache Sandebene, welche bei hoher Fluth von dem überströmenden Wasser des Flusses überrieselt wird. Hier, auf einer etwas höheren Sandbank, hat ein Eremit britischer Nation seine Residenz aufgeschlagen – wie die Großväter der heutigen australischen Squatters gethan – als ein leibhaftiger Robinson Crusoe. Er ist ein Fünfziger. Sein Gewand ist ein wahres Netzwerk von Flecken und Nähten. Seinen Kopf bedeckt ein Hut mit ungeheueren herabhängenden Krämpen, an südamerikanische Gauchos erinnernd. Er hat sich denselben eigenhändig aus dem Fell eines todten Hundes fabricirt, den die See ihm zugespült. Seine äußere Erscheinung ist demnach nichts weniger als einnehmend, aber die Ruine eines einst kräftigen Körpers und sogar edler Haltung. Sein Gesicht ist feingeschnitten und von freundlicher Miene, seine Manieren sind die eines Gentleman, und diejenigen, welche mit ihm eine Unterhaltung gepflogen, bezeugen ihm sehr gesundes Urtheil und ganz bedeutende Bildung.

Seitdem seine Anwesenheit in jener Gegend im Laufe mehrerer Jahre bekannt geworden, hat es natürlich nicht an Zeitungsreporters gefehlt, welche sich den schönen Stoff nicht entgehen lassen wollten. Einzelnen hat er ein umfangreiches Manuscript gezeigt, das Product seiner einsamen Schriftstellerfeder, betitelt: „Die Gesetze der Natur!“ Welche Selbstironie, welcher Contrast zwischen diesem naturwidrigen Leben und dem Thema, mit dem sich seine Gedanken beschäftigt! Auch an literarischen Kenntnissen vergangener Perioden soll es ihm nicht fehlen. Seine einzige Eitelkeit ist sein langer, schöner, silbergrauer Bart, um den ihn mancher König Lear der Schaubühne beneiden könnte. Sein Haar hängt ihm in langen Zottel-Locken über die Schultern auf den Rock hernieder, der, wie Joseph’s Kleid, bunt in vielen Farben ist. Seinen Namen verhehlt er nicht. Er heißt John Marley und erklärt, der Erbe der Herrschaft Kirkleatham unweit der Stadt Redcar zu sein. Die Einsiedelei dieses Mannes der Wissenschaft hat etwas vom Amphibium, ein Ding zwischen Land und Meer vereinbart. Der obere Theil eines Cab, einer Miethskutsche, ohne Räder ist auf einem alten Fischerboot befestigt. Das ist sein Haus, das er sich mit einem Ofen, mit Tisch und Stuhl, sowie mit einer kleinen Bibliothek auf Bücherbretern wohnlich eingerichtet. Die Sorgen für seinen Leib überläßt er der „gütigen Natur“. Muscheln, Krebse und Kräuter sammelt er für seine Küche am Strande und macht mitunter, wie er sich selber ausdrückt, ein herzhaftes Mahl mit todten Vierfüßlern oder todten Fischen, welche oft nach der Fluth auf der Düne zurückbleiben. Wie schon erwähnt, fehlt es ihm neuerdings nicht an Besuchern. Jede Gabe an Geld oder Nahrungsmitteln lehnt er jedoch hartnäckig ab und acceptirt nur Tabak, denn unser Einsiedler ist ein leidenschaftlicher Raucher, wie die Meisten der Weisen und Gelehrten unserer Tage. „Gott,“ sagt er, „hat immer für mich in meiner Einsamkeit gesorgt und wird mich nicht bis zum Almosenempfänger sinken lassen.“

Nun zu seiner Lebensgeschichte. Es hat sich ergeben, daß er als Kind in der Stadt Sunderland einer Frau Jane Thompson von einem Unbekannten anvertraut wurde, welcher reichlich zahlte. Bis zum sechsten Jahre verweilte er im Hause dieser Pflegemutter, als bei Gelegenheit einer Stadt-Illumination zu Sunderland zur Feier der Krönung König Georg’s des Vierten der kleine Romanheld ihren Armen mit Gewalt entrissen wurde und zwar von zwei Männern, deren Spur nicht aufzufinden war. Zwei Tage später wurde das Kind auf der Sandbank mit einer Wunde am Halse vorgefunden, deren Narben noch heute sichtbar sind. Aerztliche Hülfe rettete ihm das Leben und er wurde seiner Pflegemutter wieder zugeführt. Vier Jahre später verschwand er abermals, zum zweiten Male geraubt. Wenige Erinnerungen scheinen ihm aus den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Seaton Crees
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_518.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)