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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Heinrich von Treitschke.



Seeburg machte große Augen, als er wahrnahm, daß Vroni und der Schullehrer eine und dieselbe Handschrift hatten. Nichts war klarer, als daß das Mädchen sich von diesem die Briefe hatte verfassen lassen, denn daß Balthasar Saiblinger auf eigene Faust Seeburg geliebt haben sollte, das kam ihm noch nicht in den Sinn! Immerhin war er sehr enttäuscht und fühlte Beschämung darüber, daß er die gemachten Ergießungen eines honorirten Dorfschriftstellers für Ausbrüche einer wahren Leidenschaft gehalten habe. Er mußte sich ärgern und über sich selbst lächeln, denn, wahrlich, diese Entdeckung war geeignet, seinen bisher so heißen Kopf gründlich zu ernüchtern. Das Ganze wirkte wie eine Cur und er wunderte sich bald darauf, ein solcher Narr gewesen zu sein. Ein Narr, dessen Hypersentimentalität beinahe verdiente, so ausgebeutet zu werden! Dies bewog ihn, seinen Reiseplan wieder aufzunehmen und sich wieder an den Gebirgssee zu begeben, blos, um sich die Abwickelung dieser Geschichte anzusehen. Wie er es dem Schulmeister angesagt, war er am Pfingstsonntag im Seewirthshaus angelangt. Vroni, die ihm gleich in den Wurf fiel, benahm sich sehr spröde. Das paßte zum Scheidebrief, von dem sie freilich nichts wußte, und Seeburg wurde sonach in dem Glauben bestärkt, daß er mit ihrem Wissen abgefaßt sei.

Dem Schullehrer war, als er Seeburg absteigen sah, zu Muthe, als sei der jüngste Tag gekommen. Er verkroch sich in seinem Hause.

Seeburg hatte sich ein Frühstück in den Wirthshausgarten bestellt und nahm unter den Bäumen Platz. Vroni kam heran. Und da der Ort ohne Zeugen war, eröffnete Seeburg das Gespräch folgendermaßen:

„Du willst also nichts mehr von mir wissen?“

Das Mädchen schwieg und blickte zu Boden.

„Gut,“ sagte er in die Brusttasche langend, „da nimm also Deine Liebesbriefe zurück!“ Er gab sie ihr alle.

„Da sind ihrer zu viel,“ sagte Vroni kleinlaut; sie wußte nur von zweien.

Höchst frappirt, aber rasch die Bedeutung der Worte erfassend, nahm ihr Seeburg das Paket aus der Hand.

„Da muß ich mich geirrt haben,“ sagte er.

„Sie sind mir böse,“ sagte Vroni, „aber wüßten Sie, wie Alles ist, so würden Sie Nachsicht haben! Ich habe Ihnen bei dem besten Willen nicht für die schöne Halskette danken können.“

Vroni begann nun zu erzählen und schilderte die Schicksale, die sie in diesem Winter gehabt, ganz wahrheitsgetreu, bis sie zu dem Zeitpunkte gekommen war, an welchem ihr der Schullehrer die ihrem guten Rufe so ersprießlichen Rathschläge ertheilt hatte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_557.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)