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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Das Centrum des englischen Kornhandels.
Von Friedrich Althaus in London.


Ich war zu Anfang dieses Jahres in der Nähe des Towers beschäftigt gewesen und der Zufall führte mich durch Mark-Lane, eine der unweit der Bank von England zwischen Great-Towerstreet und Fenchurchstreet den Mittelpunkt des Londoner Großhandels durchschneidenden Gassen, zurück, die meist aus Reihen kolossaler Waarenhäuser bestehen. Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch das lebhafte Menschengedränge an dem Eingang eines großen Gebäudes gefesselt. Ich ging auf die gegenüberliegende Seite der Straße und sah mir die Fronte des Gebäudes an. Ein Blick durch eine rings von Fenstern umgebene Vorhalle zeigte mir, daß das Innere in zwei Theile getheilt sei, und in höchst auffallender Weise schied auch die Architektur der Außenseite sich in zwei schroff begrenzte Theile ab. Ueber der Vorhalle zur Rechten die Ziegelsteinfronte eines dreistöckigen Gebäudes im einförmigsten Casernenstyl; links, ohne jeden Uebergang mit diesem Bau verbunden, die Portlandsteinfronte eines von sechs dorischen Säulen getragenen griechischen Tempels. Niemand hätte auf den ersten Blick denken sollen, daß diese dreistöckige Caserne und jener griechische Tempel ein und demselben Zwecke bestimmt seien. Aber da stand dieser Zwitter von einem Gebäude als unleugbare, monumentale Thatsache und in dem Giebelfelde der Tempelfronte waren die Worte eingegraben: „Corn Exchange. Erected pursuant to Act of Parliament. 1828“ (Korn-Börse. Errichtet nach Parlamentsbeschluß), während an dem Eingang der Casernenfronte ein messingenes Schild die Worte trug: „Corn Exchange Hotel“. Ich befand mich vor der Londoner Kornbörse, dem Centrum des englischen Getreidehandels, und nach dem Zudrang von außen und dem Gedränge im Innern zu schließen, war es ein Markttag.

Ich war nicht in Eile und beschloß daher, diese Gelegenheit zu benutzen und mir die Kornbörse mit ihrem Leben und Treiben genauer zu betrachten. Ich bereute auch meinen Entschluß nicht. Denn ich sah eines der eigenthümlichsten Bilder des großstädtischen Lebens der Londoner City, und da der Zutritt keine besondere Erlaubniß erfordert, sondern Jedermann freisteht, lade ich den Leser ohne weitere Ceremonie ein, mich in die Kornbörse zu begleiten.

Wir treten ein durch die schon erwähnte fensterumgebene Vorhalle und schon hier bietet sich uns ein äußerst belebter Anblick dar. In buntem Gemisch drängen sich um uns Gruppen von Männern, dergleichen man an der Geld- und Actienbörse nie zu Gesicht bekommt und die sich sofort als die arbeitende Classe des Kornhandels zu erkennen geben: Bootleute in blauem Schifferanzug, die ihre Kähne zum Transport auf der Themse bereit halten; Müllerknechte in mehlbestäubten Kleidern und Farmersknechte im Bauernkittel, die den Befehl ihrer im Innern beschäftigten Herren erwarten; Lastträger und Laufburschen in Barchent, die zur Ausführung aller möglichen Aufträge bereit sind. An ihnen vorbei wogt der rauschende Strom der Börsenmänner nach und von dem Innern der Börse hin und her. So gut es gehen will, drängen wir uns durch das Menschengewühl in die innere Börse ein. Es ist dies die alte Kornbörse, im Unterschied von der neuen, deren Datum im Giebelfelde der griechischen Tempelfronte bereits angeführt wurde, obgleich auch die alte Kornbörse nicht sehr alt ist. Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts nämlich gab es so gut wie gar keinen Kornmarkt in London. Korn wurde allerdings an einem besonderen Platze, an dem Bear Quay in Thamesstreet, und Mehl in Queenhithe und Holborn-Bridge gekauft und verkauft, aber das Factorei- und Agentursystem, wodurch heutzutage die Handelsoperationen so wunderbar erleichtert werden und welches in der Kornbörse sein Hauptorgan besitzt, war so gut wie unbekannt. Einige Farmer aus Essex legten, so heißt es, die erste Grundlage dazu, indem sie, meist in Gasthäusern, in verschiedenen Theilen der City Agenturlocale für den Kornhandel errichteten.

Von diesen zerstreuten Agenturlocalen zu der Gründung einer Kornbörse war dann nur ein Schritt. Man hatte den schlauen Gedanken, daß der Kornhandel an Bequemlichkeit und Ausdehnung gewinnen müsse, wenn die einzelnen Agenturen in einem gemeinsamen Centrum vereinigt würden, und errichtete, um dies Ziel zu erreichen, im Jahre 1747 die alte Kornbörse in Mark-Lane. Inzwischen aber nahm der englische Ackerbau und mit ihm der Kornhandel von Jahr zu Jahr größere Verhältnisse an. Während zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts England eine Jahresernte von durchschnittlich vierzehn Millionen Scheffeln Weizen erzeugte, belief sich zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der Jahresertrag derselben Korngattung auf hundert Millionen Scheffel, und die Räumlichkeiten der alten Kornbörse wurden für die so gewaltig angewachsenen Bedürfnisse des Handels allgemein als unzureichend erkannt. Die Schwierigkeit, innerhalb der Börse Plätze für die Ausstellung von Kornarten zu erhalten, war zuletzt so groß, daß angesehene Kaufleute zehn bis zwanzig Jahre darauf zu warten hatten und Bureaus in den anliegenden Häusern miethen mußten. Andere machten ihre Geschäfte nach der urväterlichen Farmer-Methode in Wirthshäusern, noch Andere auf offener Straße oder in den Passagen und Höfen, die nach Mark-Lane auslaufen. Um so schreienden Uebeln abzuhelfen, trat im Jahre 1825 ein Comité zur Beförderung der Anlage einer neuen Kornbörse zusammen und drei Jahre später wurde das Gebäude mit der griechischen Tempelfronte vollendet. Die Abschaffung der Kornschutzzölle im Jahre 1849 und der dadurch bewirkte mächtige Aufschwung des englischen Kornhandels machte endlich ein Jahr später (1850) die Zufügung eines neuen Hintergebäudes nothwendig – ein Ereigniß in der Geschichte der Kornbörse, mit welchem ihre äußere Entwickelung, wie sie gegenwärtig dasteht, beschlossen wurde.

Aber wir befanden uns bereits in dem Gedränge am Eingang zu der alten Kornbörse. Folgen wir denn nach diesem historischen Rückblick ohne weiteren Verzug dem Menschenstrome vor uns und sehen das gegenwärtige Treiben im Innern an. Daß Markttag war, zeigte der erste Blick und ich erfuhr außerdem, daß es der Hauptmarkttag der Woche sei, daß ich mithin zu keiner gelegneren Zeit hätte kommen können als heute. Der wöchentlichen Markttage in Mark-Lane sind nämlich drei: Montag, Mittwoch und Freitag; aber der größeste ist der Montag und Montag war heute. Die Eindrücke beim ersten Eintritt sind doppelter Natur. Man sieht vor sich ein unruhig wogendes Meer von Köpfen und hört um sich her ein dumpfes Rauschen, wie die Brandung von Meereswellen. Indem man nun vorwärts drängt, fühlt man sich selbst einen Augenblick von diesem Meere verschlungen und von diesem Wellenrauschen übertäubt. Aber allmählich sondert das unterschiedslose Gedränge sich in die Gruppen und Charaktergestalten der Börsenmänner, das Rauschen der Brandung löst sich in vernehmbare Conversation und articulirte Laute auf, und gemächlich hin und her wandernd gewinnen wir nach und nach eine Vorstellung von dem innern Arrangement und dem commerciellen Mechanismus der Börse.

Man denke sich das Innere einer Basilika, von etwa hundertundfünfzig Fuß Länge, fünfzig Fuß Breite und dreißig Fuß Höhe. Man theile diesen Raum der Länge nach durch zwei Reihen von je elf ionischen Säulen in ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe, scheide das Hauptschiff der Breite nach durch vier Mal vier Säulen in fünf Abtheilungen, von denen die erste aus einer die volle Breite des Gebäudes einnehmenden Vorhalle, die zweite aus einer durch ein achteckiges kuppelförmiges Fensterdach überwölbten Art Taufcapelle, die dritte aus einer der Vorhalle entsprechenden Passage, die vierte aus einer andern achteckigen Taufcapelle und die fünfte wieder aus einer der Vorhalle entsprechenden Passage besteht; man denke sich endlich diesen ganzen Raum, Hauptschiff, Seitenschiffe und Passagen, von oben her erleuchtet – und man wird von der innern architektonischen Ausstattung der alten Kornbörse ein ziemlich treues Bild haben. Ringsherum, den beiden Längenseiten und der Hinterwand der Börse entlang, erheben sich die sogenannten Stands oder Verkaufplätze der Kornhändler. Es sind dies völlig gleichmäßig angelegte Structuren aus dunkelm Holz, von je höchstens fünf Fuß Länge und vier Fuß Breite, Structuren, deren erster Anblick an nichts mehr erinnert, als an altmodische Kirchenstühle, mit hohen Hinter- und Seitenlehnen. Der Unterschied ist nur der, daß diese Verkaufsplätze der Kornbörse außer den Bänken auch mit kleinen Schubfächern und Schreibepulten versehen sind und statt des Bücherpults einen Ladentisch haben. Auf den Bänken nun sitzen die Kornhändler und auf den Ladentischen stehen große

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_575.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)