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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

unserer Collegen die Wagen-, wollte sagen Hausthür, um zu sehen, was in so früher Morgenstunde in Neubrunn schon los sei. Schon nach wenigen Minuten aber kehrte er zurück mit der Nachricht, man stürme einen Bäckerladen. Also ein kleiner Krieg um’s liebe Brod. Den andern Tag hörten wir, das Sturmlaufen auf den Bäckerladen sei abgestellt und das Militär so frei gewesen, die Erzeugnisse desselben für sich selbst in Beschlag zu nehmen. Die armen Neubrunner! Aber auch in Neubrunn war unsres Bleibens nicht. Es lagen Verwundete genug da; unsere Hülfe sei jedoch in Helmstädt nothwendiger, hieß es, auch würden dort unsere Labemittel gut aufgenommen werden. Auf denn nach Valencia-Helmstädt, dem großen Lazareth von Uettingen. Da lagen sie schaarenweise, die Heldensöhne des Vaterlandes, in engen, dumpfen Stuben. O, ihr armen Nassauer, Euren jammervollen Anblick vergeß’ ich all’ meine Tage nicht! Mehr als zwanzig lagen ihrer in einem Zimmer und alle waren amputirt an Armen oder Beinen und jeder hielt seinen Stummel in die Höhe, um sich den Schmerz zu lindern. Da faßt einen der Menschheit ganzer Jammer an in tiefster Seele und nur die Gewohnheit macht, daß man Thränen zurückzuhalten lernt. Die Gewohnheit und – die Steigerung des Elends. Glaubt man hier das Schrecklichste gesehen zu haben, in der nächsten Minute schon steigert es sich dort zum Gräßlicheren. Das Mitleid wird zum Jammer und so geht es fort, bis das Herz in sich selbst verstummt und erstarrt. Das Gefühl für den Einzelnen geht unter in dem Jammer für das Ganze. Nur so erklärt sich die Fühllosigkeit. Die Zahl der Armen ist zu groß, um allen Linderung zu schaffen; es wird der Schmerz des Einen überhört oder vergessen trotz aller Aufopferung und Menschlichkeit, denn dort liegt ein Anderer, der noch mehr leidet.

Die Wunde selbst ist das geringste Uebel; ihre Schmerzen würden aufhören, wäre nur das Lager besser oder die Luft weniger dumpf oder die pflegende Hand immer frei zur lindernden Dienstleistung. Aber Alles lernt der Mensch ertragen, hat für Alles einen Trostspruch. Unwillkürlich vergleicht der Verwundete sein Unglück mit dem seines Nachbars und tröstet sich, daß er noch so weggekommen ist. Und man hat noch immer von Glück zu sagen, wenn man als Verwundeter überhaupt nur Hülfe findet; das mangelhafteste Dorflazareth ist noch immer besser, als das Lager unter freiem Himmel. Wie Mancher liegt todeswund auf dem Feld der Ehre, ohne daß ein Menschenauge seiner ansichtig wird, wie jener Hauptmann, der bei Aschaffenburg in einem Kornfelde lag, hülflos und verlassen sich vier Tage lang von unreifen Aehren nährte, bis er endlich aufgefunden wurde. Zu spät; nach zwei Tagen erlöste ihn der Tod von seinen Leiden.

Aber wir würden nicht fertig werden, Jammer, Elend und Unglück eines Lazareths im Einzelnen zu schildern. Die Wirklichkeit übertrifft jede Vorstellung. In der Beschreibung hört man die Töne und Laute nicht, die der Schmerz auspreßt; wie fürchterlich treffen sie das Ohr, ganz abgesehen davon, daß sie auch in der Seele nachklingen. Jammer über Jammer – dein Name heißt Krieg!

Ein Süddeutscher.




Der Beherrscher eines Kleinstaates.


Seine Durchlaucht war am Morgen des 24. September 1840 in einer sehr heitern Stimmung. Der Kammerdiener hatte das für ihn immer bedenkliche Geschäft des Ankleidens vollzogen, ohne einige fühlbare Anzeichen des allerhöchsten Mißfallens erhalten zu haben. Dem Ordonnanz-Unterofficier, der das für den Fürsten bestimmte Postpaket aus der Stadt gebracht, waren auf besonderen Befehl Serenissimi sein Frühstück und ein Laubthaler verabreicht und den übrigen Bedientenschaaren war nicht nur gestattet worden, an einem im „Gasthof zum Mohren“ stattfindenden Ballfest Theil zu nehmen, sondern der Durchlauchtigste hatte dieser Erlaubniß auch noch einige Ducaten beigefügt, damit ihm seine Leute keine Schande machten und etwas aufgehen lassen könnten …

Und wer oder was hatte diese glückliche Laune hervorgezaubert? Hatte der das schöne Geschlecht leidenschaftlich liebende Herr eine neue Eroberung gemacht? Oder hatte man einen Wilddieb lebendig eingebracht? Nein, weder das Eine, noch das Andere hatte sich fangen lassen. Wohl aber war aus Hanau im Hessenlande heute ein Brief in rosenrothem Couvert eingelaufen und dieser Brief hatte des Fürsten rosenfarbene Laune hervorgerufen.

Auf dem Kaffeetisch am Fenster, von wo aus man eine reizende Aussicht auf das romantische Elsterthal und die freundliche Stadt Gera hatte, lag der Inhalt des Briefes: das Exemplar einer hessischen Zeitung. Der Absender hatte jedenfalls dem Fürsten eine Aufmerksamkeit erweisen wollen und deshalb einen Separatabdruck auf feinem Velinpapier veranstaltet. Die erste Seite der Zeitung enthielt ein mit Goldschrift gedrucktes Gedicht, welches die Ueberschrift führte: „Volkswohl ist Fürstenlust“ und lautete:

„Im deutsch-treu-biederen Sachsenland
Wird uns ein edler Fürst genannt,
Der, wie es wörtlich die Zeitung enthält,
Als er in Gera ‘nen Kanzler bestellt,
Mit Gottesstimme, wie folget, sprach;
Von Pol zu Pol man es hören mag:
‚Unabhängig und frei der Richter soll walten,
Stets nur am Rechte fest sich halten;
Ja könnt’ ich, der Fürst, mich selbst vergessen
Und wollen mit anderem Maße messen,
Dann bitte, ja befehle ich, dann trete der Richter
Frei vor mich und spreche:
„„Fürst, kennst Du diese Schranken?““
Ich werde mich fügen, belobend ihm danken.
Denn, mir wohlbewußt,
Ist Volkeswohl Fürstenlust.
Und könnt’ man alles Herzblutes mich entbinden,
Den letzten Tropfen dem Volke würde geweiht man finden.‘[1]
– – – – – –
Und nun frag’ ich zum guten End’,
Ob ‘nen Kaiserthron nicht zieren könnt’
Der, welcher sich also hat bekannt,
Der edle Fürst im Sachsenland?
Drum, deutsche Brüder, im deutschen Wein
Ein dreifach Hoch dem Fürst von Lobenstein!

Die gute Gesinnung des Gedichts ließ den Fürsten das schlechte und holperige Versmaß vergessen und überdies waren derartige Anerkennungen in der Presse für ihn etwas so Ungewohntes, daß sich seine glückliche Stimmung leicht erklären ließ. Er zündete sich eine Cigarre an, pfiff seinem großen ungarischen Wolfshund und stieg hinab in den Wald, der den Fuß des Schlosses umsäumte. Er hatte in diesem Augenblick schwerlich eine Ahnung, daß er nur acht Jahre später in demselben Schloßhof, den er jetzt durchschritt, eine lärmende, drohende Volksmenge vor sich sehen und dreizehn Jahre später, fern von diesem Stammsitz seines Geschlechts, als abgedankter Fürst im freiwilligen Exil, im Hotel de Paris, einem Dresdner Gasthof zweiten Ranges, sterben sollte …

Der Mann, von welchem wir sprechen, hieß, als er noch unter den Lebendigen weilte, Heinrich der Zweiundsiebenzigste, Fürst von Reuß-Lobenstein-Ebersdorf, Mitregent von Gera.

Unser Geschlecht hat leider noch zu wenig Ruhe und Muße gehabt, den originellen Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts jene allseitige Betrachtung zu gönnen, die den merkwürdigen Personen des achtzehnten Säculums zu Theil geworden ist. Denn wäre das der Fall, so würde es nicht möglich sein, daß sich eine so interessante Erscheinung der Culturgeschichtsschreibung bis jetzt hätte entziehen können, wie es dieser Heinrich der Zweiundsiebenzigste von Lobenstein-Ebersdorf war.

Ich werde mich bestreben, das Charakterbild dieses deutschen Fürsten wahr, treu und unparteiisch darzustellen, ohne Haß und ohne Liebe; in den Hauptzügen gestützt entweder auf authentische Documente, die aus der Feder des Mannes selbst geflossen, oder auf Thatsachen und Vorkommnisse, deren Notorietät von keinem seiner Zeit- und Landesgenossen bezweifelt wurde. Sollte aber bei dieser Schilderung dennoch manche Partie des Bildes zu skizzenhaft erscheinen oder in nebensächlichen Momenten ein unerheblicher

  1. Die eigenen Worte des Fürsten bei Einsetzung des Kanzlers von Bretschneider, am 12. September 1840 gesprochen.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_591.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)