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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

nicht mehr eingeholt; die Grenze ist nur sechs Meilen von hier. In ihrem Wagen soll sich das sämmtliche Geld befunden haben, das in der Casse fehlte, man spricht von nahe an hunderttausend Thalern. Es war mit den Beiden über die Grenze gekommen; sie waren dort damit in Sicherheit; wir haben ja nicht einmal einen Cartelvertrag mit dem Nachbarlande. Dennoch sind die Beiden wieder hier, seit gestern schon, und sie sind nicht verhaftet, sie gehen frei umher.“

„Und das Geld?“ fragte der Begleiter des Erzählenden.

„Nun, wo das Fräulein ist, da wird auch das Geld nicht fern sein. Sie wissen, von welchem nahen Verhältnisse zwischen dem Fürsten und dem Fräulein man spricht.“

„Aber warum hätte dann der Präsident sich das Leben genommen?“

„Fragen Sie lieber, warum er heimlich das Geld aus der Casse genommen hätte.“

„Freilich! Und Ihre Antwort darauf ist?“

„Ich weiß es nicht, und – wir sind an der Gruft, und das Grab deckt Vieles zu.“

Der Zug war an dem Grabgewölbe angelangt; Der Geistliche stand in der Thür, die Leiche zu empfangen, die in das Gewölbe getragen und dann niedergesetzt wurde. Der Sarg der Tochter des Präsidenten hatte die letzte Reihe der Särge geschlossen. Der Sarg des alten Präsidenten eröffnete eine neue Reihe, um für alle Zeiten der erste und der letzte zu bleiben. Mit ihm war sein Geschlecht ausgestorben.

Als das Leichenbegängniß vorüber, als Alles fort war, was den Zug gebildet hatte, als um den Hügel und im Walde wieder die tiefe Stille herrschte und das Dunkel des Abends hereingebrochen war, als ein Diener der Propstei das Grabgewölbe verschließen wollte, da traten aus dem Dunkel des Abends noch langsam und leise zwei Personen heraus, ein junges Mädchen und ein alter Mann. Sie stiegen schweigend den Hügel hinauf. Der Diener trat vor ihnen zurück und ließ die Thür des Gewölbes offen. Sie schritten in die Todtengruft. Agathe warf sich an dem Grabe ihres Großvaters auf die Kniee und lag lange in ihrem stillen, innigen und schmerzlichen Gebete; der alte Diener Konrad stand stumm neben ihr. Als das Kind sich wieder erhob, reichte sie dem Greise die Hand.

„Wie hat er mich geliebt Konrad! Er, der stolzeste Mann der Welt, gab für mich seine Ehre hin. Zu stolz, für mich zu bitten, zu fordern, wurde er zum Diebe für mich, und dann –“

Sie konnte vor Schmerz und Thränen nicht weiter sprechen. Der alte Diener aber sagte zu ihr:

„Und bist Du nicht seine würdige Enkelin? Liebtest Du ihn nicht, wie er Dich? Warst Du nicht stolz, wie er? Nein, stolzer, als er es war? Ihn hatte zugleich eine furchtbare Verblendung ergriffen; Du handeltest mit dem klarsten und edelsten Bewußtsein.“

Und er hatte Recht, der alte Mann. Agathe hatte mit dem klarsten und edelsten Bewußtsein gehandelt, und so handelte sie ferner. Sie hatte an jenem Abend mit dem alten Diener das erste Städtchen jenseits der Grenze erreicht und hatte dort angehalten. Der Großvater wollte sich hier mit ihr vereinigen, hatte der Diener ihr gesagt, und sie wollte ihn erwarten. Statt des Erwarteten war nach einigen Stunden der Polizeirath Schwarz gekommen. Er hatte in dem fremden Lande keine Gewalt über sie. Sie wären hier nicht einmal auf seine Requisition angehalten worden. Er verfolgte sie auch nicht eigentlich; er wollte sich nur die mögliche Gewißheit über das Geschehene und vielleicht irgend eine Sicherung für die Wiedererlangung der entwendeten Cassengelder verschaffen. Er wußte zu Agathe zu gelangen. Der Diener Konrad hatte ihn nicht zurückhalten können.

„Mein gnädiges Fräulein, ich muß mich mit einer Trauerbotschaft bei Ihnen einführen.“

Er theilte ihr mit, daß ihr Großvater nicht mehr am Leben sei; ein plötzlicher Schlagfluß habe ihn gleich nach ihrer Abreise getödtet. Agathe drohte umzusinken. Der Polizeirath kannte das menschliche Herz.

„Mein gnädiges Fräulein, ich habe Sie auf noch Schwereres vorzubereiten. Aus der Regierungscasse ist eine bedeutende Summe Geldes auf unerklärliche Weise entkommen. Es kann nur in die Hände Ihres Großvaters gelangt sein, und ich habe Grund zu vermuthen, daß es sich in dem Wagen befindet, der Sie hierhergebracht hat.“

Da erhob das Mädchen, das Kind, sich in der vollen Reinheit ihres Herzens, in ihrem edelsten Stolze.

„Mein Herr, untersuchen Sie den Wagen. Konrad!“ rief sie.

Der Diener kam und sie gingen gemeinschaftlich zu dem Wagen.

„Konrad, ist in diesem Wagen Geld verborgen?“

Ein halber Blick auf das edle Mädchen zeigte dem braven Manne, was er zu thun habe. Er öffnete einen verborgenen Kasten des Wagens. Der Kasten war mit Goldrollen angefüllt. Agathe war kreideweiß geworden. Sie mußte sich krampfhaft an dem Arme des Dieners festhalten.

„Er that es für Dich, Agathe,“ flüsterte der alte Mann ihr zu. „Er wollte Dich glücklich machen.“

Sie wußte Alles. Sie hatte ihre Fassung wieder.

„Mein Herr, ich bin Ihre Gefangene!“ sagte sie zu dem Polizeirath.

„Nicht meine Gefangene, mein gnädiges Fräulein. Aber es wird Ihnen ein Bedürfniß sein, in der Nähe des theuren Todten zu weilen.“

Es war so. Agathe kehrte zu der Propstei zurück. Mit ihr der alte Diener. Er wußte, was ihm bevorstand; denn er war der Theilnehmer an dem schweren Verbrechen des Präsidenten. Er konnte das Mädchen nicht verlassen. Der Polizeirath hatte das Geld an sich genommen; es fehlte nichts daran. Er übergab es dem Polizeipräsidenten, und dieser fuhr zu dem fürstlichen Jagdschlosse in der Nähe der Stadt, dem Fürsten den Bericht von den neuen Ereignissen abzustatten. Der Fürst befahl, von der Sache durchaus kein weiteres Gerede zu machen.

Am andern Morgen erschien bei Agathen ein alter Kammerherr, ein Vertrauter des Fürsten. Er kam im Auftrage desselben, ihr das Geld zurückzubringen; der Fürst hatte so viel hinzugesetzt, daß es die volle Summe von hunderttausend Thalern war. Agathens schönes Gesicht wurde bei dem Anerbieten von glühender Röthe übergossen, dann wieder kreideweiß.

„Nein, mein Herr!“ rief sie. „Sagen Sie Seiner Hoheit meinen Dank. Ich kann von dem Gelde nichts annehmen, keinen Pfennig.“

Der Kammerherr stand wie erstarrt.

„Aber Sie sind arm, mein gnädiges Fräulein!“

„Ich kann arbeiten.“

Der Kammerherr mußte mit dem Gelde zurückkehren. Einen Augenblick hatte sie geschwankt. Es war plötzlich ein Gedanke in ihr aufgetaucht. Aber sie wies ihn zurück, wie er gekommen war.

„Ich wollte etwas für Dich behalten,“ sagte sie zu dem alten Konrad. „Aber ich werde auch für Dich arbeiten.“

Der Greis drückte ihr dankbar die Hand.

„Ich hätte es noch weniger nehmen können, als Du.“

So waren das Mädchen und der alte Mann, als der Pomp der von dem Fürsten befohlenen Leichenfeier vorbei war, zu der Todtengruft gegangen, um dem geliebten Verstorbenen ihren stillen Schmerz zu weihen. Und von der Gruft kehrten sie nicht in die Propstei zurück. Sie gingen in den dunkeln Wald hinein, eine halbe Stunde lang. Dann hatten sie ein kleines, aber freundliches Haus erreicht. Ein Fenster unten an der Erde war hell darin.

„Bleib’ Du ein paar Schritte zurück,“ bat das Mädchen ihren Begleiter.

Sie trat allein an das helle Fenster und blickte hindurch in ein freundliches und reinliches Stübchen. Eine alte Frau saß darin, und ein junger Jägersmann mit frisch blühendem, kräftigem und doch so mildem Gesichte. Mutter und Sohn sprachen mit einander, und das Mädchen konnte ihre Worte hören.

„Mutter,“ sagte der junge Mann, „Du hast gehört, was Agathe gethan hat. Wird sie Dir auch ohne Geld eine liebe Tochter sein?“

„Hätte sie das Geld nicht vielleicht hochmüthig gemacht, mein Sohn?“ fragte die Mutter dagegen.

„Sie nicht! Sie nimmer!“

„Aber ich würde es immer gefürchtet haben. Und so recht aus dem Herzen lieben könnte ich sie nur, wenn sie wie Unsereins zu uns käme und bei uns bliebe.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_652.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)