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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

verlebte Stunden erinnerte, dann traten mir wohl Thränen in die Augen und ich konnte mich trüber Todesahnungen nicht erwehren. Und die Welt, von der ich nur ein kleines, frisch grünendes Stück durch die Fenster sehen konnte, ich träumte sie mir paradiesisch schön und rein. Alles war Sehnsucht, und ich wußte nicht, wonach.

Aber beim düstern Scheine des Nachtlichts quälten mich garstige Phantasien. Morphiumpulver halfen nur auf Stunden. „Zieht doch mein Bein aus dem Kanonenrohre heraus und schafft die ganze Batterie da weg, aber der Fuß muß ‘runter, sonst geht das Bein nicht aus dem Rohre,“ so bat und forderte ich, als mein Bein in einem schweren Gypsverbande lag, der mich mit seinen obern Kanten wund rieb. Versuche, das vermeintliche Kanonenrohr selbst zu entfernen, machten mir natürlich heftige Schmerzen und brachten mich zur Besinnung. Die schmale Diät, die mir auferlegt war, vermehrte selbstverständlich den Zustand physischer und psychischer Schwäche. Charakteristisch für diese Wassersuppenperiode war die Freude, die ich über jede Neuerung in der ärztlichen Behandlung meiner Wunde hatte. Wie ein Schiffbrüchiger, der sich an jeden schwimmenden Balken anklammert, so hoffte ich von jeder neuen Bandage Rettung. Und wirklich hatte ich das Vergnügen, so ziemlich die ganze Scala von Vorrichtungen kennen zu lernen, die der menschliche Scharfsinn zur Heilung gebrochener Oberschenkelknochen erfunden hat.

Am fünften Tage wurde das noch immer mächtig angeschwollene Bein gedehnt – eine schmerzhafte Procedur – und in eine horizontale Blechrinne gelegt. Drei Tage später wieder Dehnung mit obligatem Knirschen und Knacken des zersplitterten Knochens und Anlegung eines schweren Gypsverbandes, der von der Ferse bis unter die falschen Rippen reichte. An diesen Kalküberzug werde ich mein Leben lang denken! Die Geschwulst des Beines nahm darin freilich ab, dafür gewannen aber in der schlotterigen Hülle die beiden Knochenfragmente beliebigen Spielraum zu Reibungen und Stauungen, die mir viel Leids verursachten. Für die Schußwunde war ein Loch in den Gypsmantel geschnitten, die Eiterung wurde hier bald so stark, daß ich alle halbe Stunden verbunden werden mußte. Berge von Charpie sind hierbei verwüstet worden, als deren barmherzige Spenderinnen ich mir hundert holde Jungfrauen vorstellen durfte. Dagegen war die Schnittwunde am hintern Schenkel fest eingeklemmt und so am Eitern verhindert: auch das war sehr beschwerlich.

Kurz, der Gyps behagte mir gar nicht und ich war glücklich, als man mir eine „Bonnet’sche Drahthose“ ankündigte, so benannt nach ihrem französischen Erfinder Bonnet. Man denke sich einen mächtigen Ritterharnisch und subtrahire das Vordertheil, und das Bild des schwerfälligen Panzers ist fertig. Ich lag darin, wie ein Kind in den Windeln, nur daß bei mir jedes Bein für sich lag. Bei dem Einlegen natürlich wieder Dehnung und Schmerz. Eine Annehmlichkeit hatte dieser Verband: durch Flaschenzug konnte ich mich selbst in eine schwebende Lage bringen. Ein junger Arzt, der mich dann und wann besuchte, war ganz entzückt von dem ihm neuen Apparate. „Das ist das einzig Wahre,“ sagte er; ich glaubte es auch, aber wir irrten uns Beide.

Ich lag jetzt fast ganz horizontal. Die Eiterung nahm eher zu als ab; Fleisch und Kräfte schwanden immer mehr, und eines schönen Morgens machte ich die betrübende Bemerkung, daß mein linkes Bein nach langem Stillliegen in der Drahthose auffallende Aehnlichkeit mit einem Schwefelhölzchen hatte. Der Appetit, der sich nun – etwa in der vierten Woche – entfaltete, war ebenso berechtigt als willkommen; ich aß tüchtig Fleisch, genoß dazu ein Glas guten Weins und (Hauptsache!) eine feine Havanna. Meine sentimentale Stimmung schlug allmählich um, ich wurde heiter und fidel, pfiff und sang und freute mich auf meine, wie ich glaubte, nahe bevorstehende Genesung. Auch meine damaligen Aerzte hielten meinen Zustand für vortrefflich; die Schußwunde sah so schön aus, daß man in ärztlichen Kreisen meinen Fall als das Muster einer Oberschenkelbruch-Heilung besprach. Und doch war ich Todescandidat!

In der sechsten Woche nach der Schlacht fand in unserm Krankenstaate ein theilweiser Wechsel des ärztlichen Personals statt. Ich hatte das Glück, fortan von einem der berühmtesten Aerzte Deutschlands behandelt zu werden[WS 1], der seine reichen Erfahrungen als Director der Kliniken an vier Universitäten und als hochgestellter Militärarzt in drei Feldzügen gesammelt hat. Was ich mehr preisen soll, seine hohen ärztlichen Einsichten oder seine Güte und Liebenswürdigkeit, weiß ich nicht. Den ersteren verdanke ich mein Leben, den letzteren eine Reihe der interessantesten und lehrreichsten Unterhaltungen. Die Stunden, in denen der würdige Mann nach segenbringender Arbeit in den Lazarethen an meinem Bette seine Morgencigarre rauchte, werde ich nie vergessen; auch damit hat er viel zu meiner Heilung beigetragen. Allen Aerzten aber wünsche ich die erquickende Milde und Schonung, mit der er seine Patienten behandelt, die bewundernswerthe Geschicklichkeit und Accuratesse, mit der er Verbände anlegt, und vor Allem seinen Grundsatz, daß Schmerzen und Unbehaglichkeiten dem Kranken wenn nur möglich zu ersparen seien.

Bisher hatte mein krankes Bein horizontal gelegen. Die namentlich bei splitterigen Knochenbrüchen so nothwendige beständige Extension (Ausdehnung) war nie, auch mit Gewichten nicht recht, geglückt; die Bruchenden des Knochens waren fortwährend auf einander gestoßen und hatten in der entzündlichen Muskelmasse eine ganz abnorme Eiterung hervorgebracht. Diese war eben um den vierzigsten Tag so stark, daß man nur sanft auf eine beliebige Stelle des Schenkels zu drücken brauchte, um den Eiter einem Börnlein gleich aus der Schußwunde herausfließen zu sehen. Das Nächste, was mein Retter that, war, daß er mich aus der Bonnet’schen Drahthose herausnahm und mein Bein auf einen höchst einfachen und anspruchslosen Apparat legte: eine sogenannte „doppelt geneigte Ebene“ aus zwei gleich langen Bretchen bestehend, die, mit Scharnieren verbunden, nach oben in beliebigen Winkel gebracht werden können. „Ja, sehen Sie, das ist das einzig Wahre!“ So sprach wiederum jener bereits erwähnte junge Arzt zu mir, als er mich in meiner neuen Lage sah. Ich gab ihm das vollständig zu, und diesmal hatten wir Beide Recht.

Die Extension ging jetzt trefflich von statten und die Knochenenden setzten sich gerade aufeinander. Zwischen ihnen aber fühlte man Körperchen, die dem leisesten Drucke mit dem Finger auswichen. „Da sitzt der Uebelthäter,“ sagte mein Arzt, und ich wußte nun, daß da etwas herauszuholen war.

Indessen war mein Zustand sehr bedenklich geworden. Die Eitergeschwulst drohte sich edlen Theilen mitzutheilen; hier lag die Gefahr der Eitervergiftung (Pyämie) vor, die ihre Opfer binnen wenigen Tagen dahinrafft. Dann war meine körperliche Schwäche und Abmagerung so groß, daß jeder operative Eingriff die völlige Auflösung bringen konnte. Erst später habe ich erfahren, daß mein Arzt und seine Assistenten mich damals aufgegeben hatten. „Ihr Pflegling lebt nur noch einige Tage,“ hatte man den Leuten im Hause gesagt, und mein Bruder mußte abreisen, um die Verwandten auf meinen Tod vorzubereiten.

Am zweiundfünfzigsten Tage Morgens trat mein Arzt mit vier Collegen in’s Zimmer; daß der letzte einen großen Kasten mit chirurgischen Instrumenten schnell versteckte, entging mir glücklich. Ich sollte mit List gefangen werden. Die Herren besahen harmlos mein Bein – da drückte mir plötzlich Einer von ihnen, der hinter mir stand, eine Maske auf’s Gesicht, und alsbald dufteten mir die betäubenden Dünste des Chloroforms in die Nase. „Sie chloroformiren mich ja,“ lallte ich und wollte weiter darum bitten, mir das Bein nicht abzuschneiden, als ich ermahnt wurde, den Mund zu schließen und tief durch die Nase zu athmen; ich schwieg und ergab mich, das Beste hoffend.

Es war das zweite Mal, daß ich chloroformirt wurde; früher, am fünfundzwanzigsten Tage, war mir ein Knochensplitter aus dem Schußcanal geholt worden. Das Gefühl, welches ich bei beiden Malen hatte, war, als wenn meine ganze Gedankenwelt in kreisender Bewegung wäre, ähnlich einem Feuerrade; dabei summte mir ein Ton im Kopfe, wie das Singen eines Trinkglases, dessen Rand anhaltend mit einem nassen Finger bestrichen wird; die zuerst an Schnelligkeit zu-, später abnehmenden Pulsschläge schlugen gleichsam den Tact. Je näher ich der völligen Betäubung kam, desto mehr schien sich das ganze Gefühls- und Nervenleben auf den Kopf zu beschränken: ich konnte noch klar denken, war mir aber der unwillkürlichen Bewegungen meiner Arme nicht bewußt; nur die reizbare Gegend um die Wunde schien noch mit dem Gehirn zu correspondiren, wenigstens fühlte ich noch ganz zuletzt, daß etwas darauf gelegt wurde, und zwar, wie ich später erfuhr, meine eigene rechte Hand. Während der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_673.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)