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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

seiner Jahre, starb, aber Niemandem erzählen wollte, was er draußen an jener furchtbaren Stätte gesehen.

Auch der alte Registrator wurde dadurch von seinen eigenen unbehaglichen Gedanken ab- und diesem Thema zugelenkt und wußte eine solche Menge haarsträubender Geschichten, daß die kecke Rosel auf ihrer nächtlichen Wanderung fast schon vergessen war, und das Schenkmädchen, die Bärbel, immer wieder frischen Wein herbeischaffen mußte, um die ausgetrockneten Kehlen zu erquicken. Und wie flink bediente heute das sonst etwas träge oder langsame Mädchen die Gäste, denn nicht um die Welt hätte sie eine der da drinnen erzählten Schauergeschichten versäumen mögen, wenn’s ihr auch manchmal wie mit einer Gänsehaut über den ganzen Körper lief.

„Jesus, meine Güte!“ sagte plötzlich der Hauptcontroleur, dem es indessen einmal eingefallen war, nach der Uhr zu sehen. „Es ist ja schon Eins vorbei und das Mädel, die Rosel, noch nicht zurück. Die hätte doch wahrlich keine Stunde gebraucht, um hin und her zu laufen; wenn ihr nur nichts passirt ist!“

Der alte Registrator war erschreckt von seinem Stuhle aufgesprungen. „Schon Eins vorbei,“ stöhnte er, „wahrhaftig, Ihr Leute, jetzt … jetzt wird mir auch nicht wohl bei der Sache. Wir hätten die tolle Dirne nicht sollen gehen lassen! Der Himmel verhüte, daß dem Kind etwas geschehen ist; ich würde mein Lebtag nicht wieder ruhig.“

„Wir wollen ihr nach,“ rief einer der jungen Burschen. „Ist vielleicht eine Laterne im Haus, die wir mitnehmen könnten, wenn wir sie oben brauchen sollten? Der Mond scheint auch schon unterzugehen und wir finden sonst am Ende den Weg nicht.“

Die jungen Leute waren aufgesprungen und griffen schon nach ihren Hüten, und in der That hatte sich die ganze späte Gesellschaft erhoben, denn die Angst um das junge Mädchen verdrängte alle anderen Gedanken. Da öffnete sich plötzlich die Thür, und Rosel selber stand auf der Schwelle, ernst und still, mit leichenbleichen Zügen. In der Hand trug sie einen kleinen grünen Busch, den sie neben dem Bäcker auf den Tisch warf, und sagte ruhig:

„Da, Meister Bollharz, ist Euer Zweig; ich werde mir morgen oder heute, denn es ist wohl schon spät geworden, die Orangenstöcke holen. Ihr könnt nachsehen oben, gerad’ unter dem steinernen Tisch weg hab’ ich ihn abgeschnitten.“

„Aber Rosel, um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Kind? Wie eine Leiche! Was ist Dir geschehen?“ rief der Registrator.

„Mir geschehen? was sollte mir geschehen sein!“ sagte das Mädchen, „nur müd’ bin ich geworden von dem weiten Weg. Bärbel, sieh’ gut nach dem Licht, wenn die Gäste fort sind, und schließ’ die Thür ordentlich; ich will schlafen gehen.“

„Aber Rosel, so erzählen Sie doch,“ bat jetzt der Hauptcontroleur, der sie mit ängstlichen Blicken betrachtet hatte, denn etwas Uebernatürliches mußte ihr begegnet sein, das Entsetzen stand ihr ja noch an der Stirne geschrieben.

„Morgen, morgen,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Heute ist’s schon zu spät geworden und es wird Zeit, daß wir schlafen gehen. Gute Nacht mitsammen,“ und eines der schon fast niedergebrannten Lichter vom Tisch aufgreifend, verließ sie damit das Zimmer und stieg langsam in ihr eigenes Kämmerchen hinauf.


3. In der Ruine.

Wir müssen zu dem Augenblick zurückkehren, wo Rosel, noch mit Trotz und keckem Muth im Herzen, aus dem Hause sprang, um ihren einsamen Weg anzutreten. Still lachte sie vor sich hin, wenn sie sich schon im Geist das erstaunte und verblüffte Gesicht des Meister Bollharz ausmalte, sobald sie ihm das Wahrzeichen brachte und er nun sein Wort halten und ihr die ihm so an’s Herz gewachsenen wundervollen Stöcke ausliefern mußte. Schenken wollte sie ihm dieselben wahrlich nicht, das war die gerechte Strafe für das große Maul, das er immer führte, und für seine ewige Wichtigthuerei.

Im Anfang hatte sie auch leichten, bequemen Weg. Die breite Chaussee, die nach Hellenhof führte, lief dicht unter dem Hügel hin, auf welchem die Ruine lag, und erst von dort ab, wo sie jene verlassen mußte, begann für sie die unbequeme Bahn, den ausgewaschenen, verwachsenen Pfad hinan, vor dem sich mancher Fußgänger schon am hellen Tage scheute.

Der abnehmende Mond stand freilich noch am Himmel, aber leichtes Gewölk jagte dann und wann darüber hin und warf seine wunderlichen Schatten auf die Erde nieder. Furcht kannte sie trotzdem nicht, und ebensowenig glaubte sie an die tollen Märchen des alten, gutmüthigen Registrators und des verschrobenen Hauptcontroleurs und gar nun des Stadtschreibers, der so voll von Aberglauben stak, daß er nichts im Leben that, ohne vorher den Kalender dabei um Rath zu fragen. Seine Nägel schnitt er sich nur am Freitag und würde ebenso leicht daran gedacht haben, sich den Hals ab-, als die Hühneraugen bei abnehmendem Monde auszuschneiden. „Unberufen“ war bei ihm das dritte Wort, und wenn er Morgens auf’s Rathhaus ging und ihm unglücklicher Weise ein Bauer mit einem Schwein begegnete, so bog er auch sicher in die nächste Straße ein oder kehrte, wenn das nicht möglich war, lieber wieder um, selbst beim schlechtesten Wetter den weitesten Umweg nicht scheuend, ehe er sich der Gefahr und den unausbleiblichen Folgen eines solchen Zusammentreffens ausgesetzt hätte.

Sie lachte still vor sich hin, als sie an all’ die tausend Rücksichten dachte, die der alte Stadtschreiber im Leben nahm, und wie er sich wohl betragen würde, wenn er jetzt, um ziemlich Mitternacht, den einsamen Weg zu der Ruine einschlagen sollte. Er wäre freilich wohl durch keine Summe Geldes zu bewegen gewesen, ein derartiges Wagstück zu unternehmen.

Wie still und öde die Straße war, und was für große dunkle Schattenflecke die daranstehenden Wallnußbäume darüber warfen! Keine Menschenseele ließ sich blicken; die schliefen jetzt Alle in ihren warmen Betten und verschlossenen Häusern und – da hätte sie auch hineingehört. Was für eine tolle Idee es von ihr gewesen war, mitten in der Nacht den einsamen Gang zu thun, und nur aus Muthwillen, oder vielleicht aus Trotz, um den Meister Bollharz zu ärgern! Und was der Vater wohl morgen dazu sagen werde, wenn er es erfahre, und natürlich erfuhr er’s, war doch morgen gewiß die ganze Stadt voll davon. Rosel erschrak ordentlich bei dem Gedanken, denn das war ihr bis jetzt noch nicht eingefallen, daß sie nun Tage lang in aller Welt Mund sein würde. Unwillkürlich blieb sie mitten auf der Straße stehen; durfte sie sich, als junges, unbescholtenes Mädchen dem aussetzen? Wenn sie früher daran gedacht, hätte sie es sicher nicht gethan, jetzt war es freilich zu spät, denn kehrte sie nun wieder um, so wurde sie von der ganzen Gesellschaft ausgelacht, und das Gerede wäre doch das nämliche geblieben.

„Nun läßt sich nichts daran ändern,“ sagte sie trotzig vor sich hin, als sie wieder, aber langsamer als früher, vorwärts schritt. „Ich hätte mir’s vorher erst ordentlich überlegen sollen, aber das Alles kam so schnell. Wer denkt auch gleich daran, daß die Welt in Jedem ’was Böses findet, ich wahrlich nicht, und der Vater wird schon auch nicht so arg böse sein; mag er doch den Meister Bollharz ebenfalls nicht leiden, und auf den war’s ja doch gemünzt. Und die Frau Bollharz, wie wird die wüthend werden, wenn sie die Orangenstöcke herausgeben muß! Von der kriegt’s der Meister ordentlich, das ist sicher, geschieht ihm aber recht, dem alten verliebten Fleischklumpen dem.“

Da lag die Ruine. Wie sie eben um eine Biegung der Straße trat, konnte sie die alten Mauerreste deutlich erkennen, und ordentlich wunderlich sah es aus, wie der Mond jetzt gerade von der einen stehengebliebenen Thurmmauer verdeckt wurde und sein helles Licht durch die enge Schießscharte derselben warf.

„Ich muß wirklich ein wenig rascher gehen,“ flüsterte sie vor sich hin, während sie ihren Schritt beschleunigte, „oder der Mond kommt hinter die Berge, und dann reiß ich mir im Dunkeln auf dem Rückweg mein ganzes Kleid in den häßlichen Büschen entzwei. Daß der Mond auch gerade heute so früh untergeht!“

Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, wo der alte Burgweg von der Straße rechts abbog und sich, von hier aus noch allmählich, dann aber immer steiler, den Hügel hinanzog, bis endlich oben, dicht unter den frühern Ringmauern, eine ordentliche Treppe in den Felsen gehauen war, die mit zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen auf die höchste Kuppe hinaufführte.

Der Hügel selber war meist mit Haselnußstauden, Birken und jungen Buchen bewachsen; Nadelholz stand nur vereinzelt dazwischen, und in früheren Jahren hätte man recht bequem bis zu den eingehauenen Stufen selbst reiten können. Jetzt aber war

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_714.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)