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Dem englischen Wetter und Wager der Rennbahn schwebt vielmehr als Ziel die Erhaltung und Vervollkommnung jener unvergleichlichen Race von Rennpferden vor, deren dieses Eiland sich rühmt, die Erhaltung und Ausbildung des nationalen Sports, dem dieses Inselvolk einen so großen Theil seines Einflusses verdankt.

Die Ausbildung der englischen Pferderace und der englischen Wettrennen ist nicht so alt, wie man häufig denkt. Erst im siebenzehnten Jahrhundert unter Jakob dem Ersten, der ein eifriger Patron der Rennbahn war, begann das kunstgemäße Trainiren von Jockeys und Rennpferden, und Wettrennen zu Pferde kamen nicht blos bei dem Adel, sondern auch unter der höheren Gentry in Mode. Sein ritterlicher Sohn Carl der Erste zeigte sich ebenfalls als leidenschaftlichen Pferdefreund; er gründete die noch heute blühenden Rennen von New-Market. Auch Carl der Zweite, ein eifriger Liebhaber jeder Art von Sport, förderte das edle Nationalvergnügen in aller Weise, indeß erst unter Georg dem Dritten stieg das in seiner Gesammtheit in dem Worte „the Turf“ (Rasen) zusammengefaßte Spiel zu dem Ansehen einer wahrhaft volksthümlichen Institution empor. Rennbahnen, Zuchtgestüte, Kampfpreise, regelmäßig wiederholte Wettrennen mehrten sich von Jahre zu Jahre. In New-Market entstand, als höchste gesetzgebende Behörde des Turf, der Jockeyclub; das Trainiren von Jockeys und Rennpferden, das Wetten und Wagen auf die Chancen der Rennbahn bildete sich zu einer in’s kleinste Detail entwickelten Wissenschaft aus. Ganze zahlreiche Menschenclassen fingen an, auf und von dem Turf zu leben. Intriguen und Speculationen, eine eigene Kunstsprache und Literatur, eine Gesellschaft in der Gesellschaft, ein Staat im Staate schossen aus dem grünen Rasengrunde üppig, charakteristisch, seltsam hervor und in den wechselnden Ereignissen dieser Welt, von den kleinen provinciellen Wettrennen bis zu dem höchsten Festtage des Turf, dem Derbytag in den Rennen zu Epsom, gingen fabelhafte Summen in dem Hazardspiel des Wettens gewonnen und verloren.

In jener Sturm- und Drangzeit des Turf trat auch die seitdem unter dem Namen des Tattersall bekannte Anstalt in’s Leben. Bei dem immer wachsenden Interesse an den Begebenheiten der Rennbahn und der überhand nehmenden Praxis des Wettens hatte man schon längst den Mangel eines Locals empfunden, welches den Habitués der Rennbahn ebenso als Mittel- und Sammelpunkt dienen sollte wie Bank und Börse den Kaufleuten der City. Ein Pferdezüchter des Herzogs von Kingston, Richard Tattersall, ein Mann von niedriger Herkunft, der, wie viele seines Gleichen, im Stalle und im Wettrennen ein Vermögen erworben, hatte den glücklichen Einfall, diesem Mangel abzuhelfen. Er errichtete im Jahre 1777 ein Local an der südwestlichen Ecke des Hydepark in London, welches Versammlungszimmer für die Freunde des Turf, einen Hofraum zur Ausstellung und zum Verkauf und Stallungen zur Herberge von Pferden umschloß, und fand, durch seine auf der Rennbahn gewonnenen Verbindungen unterstützt, mit seinem Unternehmen rasch den lebhaftesten Anklang. Nichts konnte bequemer sein, als das im fashionabeln Mittelpunkt der Hauptstadt gelegene Etablissement, wo man sicher sein durfte, zu gewissen Zeiten die hervorragendsten Koryphäen des Turf anzutreffen, die neuesten Nachrichten über Pferde und Wettrennen zu erfahren, und außerdem die beste Gelegenheit fand, das Geschäft der Rennbahn, Kauf und Verkauf von Pferden und, was noch wichtiger, die Besprechung und Liquidirung der Wetten zu besorgen. Richard Tattersall besaß die zur Leitung einer solchen Anstalt nöthige Energie und Erfahrung und legte den Schlußstein seines Gebäudes, indem er eine Turf-Zeitung gründete, in deren Spalten besoldete und freiwillige Mitarbeiter sämmtliche Ereignisse der Rennbahn discutirten. Als er zu Anfang unseres Jahrhunderts starb, war sein Erfolg auf’s Glänzendste festgestellt und „Tattersall’s“ die Londoner Sportsmen- und Pferdebörse, oder wie man, wegen der Lage des Locals an der Ecke des Hydepark, auch einfach sagte: the Corner (d. i. die Ecke) war eine ebenso unentbehrliche nationale Einrichtung geworden wie der Turf selbst. Richard Tattersall war außerdem glücklich genug, einen Sohn zu haben, der die Talente des Vaters geerbt hatte und, unter Pferden und Stallungen, unter Wetten und Auctionen, in dem Verkehr mit königlichen Prinzen, Herzögen, Grafen, Lords, Landedelleuten, Jockeys und Pferdezüchtern, kurz professionellen Sportsmen von jeder erdenklichen Herkunft und Schattirung, groß geworden, ohne Mühe in des Vaters Fußstapfen trat und sein Geschäft zu allgemeiner Zufriedenheit fortsetzte. Die Localitäten wurden, je nach dem Bedürfniß der Zeit, gelegentlich verschönt und erweitert, die Regulationen revidirt, bis der Tattersall das Aussehen erlangte, dessen manche unserer Leser, die während der internationalen Ausstellungen von 1851 und 1862 oder zu anderen Zeiten London besucht haben, sich gewiß noch erinnern.

Die specielle Vorsehung, welche über den Geschicken des Turf waltet, beschenkte auch den jüngern Tattersall mit einem des Anherrn würdigen Sprößling, und dieser Enkel des alten Richard ist es, der, von einem ebenfalls seiner würdigen Bruder unterstützt, gegenwärtig dem Tattersall vorsteht. Aber der alte Tattersall, an der alten „Ecke“ existirt nicht mehr. Wer heutzutage nach London kommt, wird seine Stätte vergebens suchen. Schon vor einer Reihe von Jahren hatte man gefunden, daß das Local den wachsenden Anforderungen der Zeit, der immer zunehmenden Menge der wettenden und wagenden Brüderschaft des Turf nicht mehr genüge; so begann man weiter nach Südwesten, an dem Punkte, wo die dem Hydepark entlang laufende große Fahrstraße sich gabelförmig in zwei nach Kensington und Brompton führende Straßen scheidet, den Bau des neuen Tattersall und zu Anfang der Turfsaison des verflossenen Jahres war das Werk vollendet. Es ist der Erwähnung werth, daß der Jockeyclub dies bedeutsame Ereigniß durch ein in dem großen Saale zu Ehren der Herren Tattersall veranstaltetes Festessen feierte und damit den neuen Tattersall einweihte. Zur Erhöhung der Feierlichkeit hatte man mit wahrhaft erstaunlichem Fleiße sämmtliche seit der ersten Gründung des Tattersall’s von den Siegern der Rennbahn gewonnenen Preise: silberne und goldene Becher, Vasen und Tafelaufsätze, aus allen Theilen Englands zusammengebracht.

Man betritt den neuen Tattersall durch ein säulengetragenes Thor, welches der oben erwähnten Abzweigung der großen Fahrstraße gerade gegenüber liegt und eine Einfahrt für Wagen und zwei Seiteneingänge für Fußgänger umfaßt. Zu beiden Seiten des zunächst hinter dem Thore gelegenen Vorhofes befinden sich die den Mitgliedern des Tattersall und den durch sie eingeführten Fremden ausschließlich geöffneten Räumlichkeiten: Lese- und Restaurationszimmer und das berühmte Subscription-Room. An diesem letzteren vorbei den Vorhof durchschreitend, gelangt man in die Auctionshalle, ein sehr geräumiges luftiges Local, zu dem der Eintritt dem großen Publicum ohne Ausnahme frei steht. Diese Auctionshalle wird durch ein Glasdach von oben her erleuchtet und hat bei einer Länge von etwa achtzig eine Breite von vierzig und eine Höhe von fünfunddreißig Fuß. Rechts vom Eingang der Halle führt eine Thür in einen mit Stallungen besetzten inneren Hof; eine andere Reihe von Ställen hat ihre Thüren in der linken Längenwand der Auctionshalle. Darüber erhebt sich eine offene Galerie, auf der eine Auswahl von Wagen nach den beliebtesten sportmännischen Mustern zum Verkauf ausgestellt ist.

Den Mittelpunkt der Halle nimmt ein kleiner kreisförmiger, säulengetragener, von einer Kuppel überwölbter und von der Büste Georg’s des Vierten gekrönter Pavillon ein. Es ist dies der einzige architektonische Schmuck des Tattersall, und während die königliche Büste das Andenken eines der eifrigsten Patrone des Turf und des mächtigsten Gönners der Familie Tattersall verherrlicht, bietet das Innere des Tempelchens Raum zur Feier des genius loci, der in Gestalt des schlauen Reinhardt Fuchs mit wohlgefällig glänzenden Augen von seinem Postamente die ihm geweihte Halle überschaut. Die ursprüngliche Absicht war ohne Frage, den Gedanken an die Fuchsjagd, jenes non plus ultra englischer Jagdfreuden, mit dem Tattersall in Verbindung zu bringen, aber die feine Selbstironie der Aufstellung des Fuchses in dem Centrum eines Locals wie des Tattersall ist unübertrefflich. Das Auctionsbureau steht in der hintersten Ecke der rechten Längenwand, und hier kann man in den Vormittagsstunden während der Saison den großen Tattersall selbst erblicken, wie er in höchsteigener Person Pferde zum Verkauf ausbietet und dem Meistbietenden diese edeln Gestalten des Thierreichs mit seinem eleganten kleinen Hämmerchen zuschlägt. Das Publicum, welches sich zu den Auctionen einfindet, hat das gemeinsam, daß es fast durchschnittlich stark nach dem Stalle riecht; übrigens ist es aus fast allen Ständen gemischt, ganz wie das die Wettringe der Rennbahn frequentirende Volk, und bietet wie dieses, von dem Lord zum Stalljungen herunter,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_718.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)