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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

gäbe; – so gering der Touristenverkehr war, so auffallend groß ist die diesjährige Liste der Unfälle, welche Menschenleben in den Alpen verschlangen. Der prachtvolle Sommer von 1865 (dieser gesegnete Weinkocher, wie so rasch kein zweiter kommen wird) hatte auch seine Quote Menschenseelen für den Alpengeist gefordert, aber die Verhältnisse waren ganz andere als heuer. Jene vorjährigen Unglücke ereigneten sich an Stellen, von denen der besonnene Berggänger vorausgesagt haben würde: „Hier gilt’s zuvor sein Haus bestellen.“ Die diesjährigen, numerisch und relativ den vorjährigen überlegen, sind mit wenigen Ausnahmen fast alle an Stellen begegnet, die an und für sich so gefahrlos, so allgemein frequentirt sind, ich möchte sagen wie die Schwellen unserer Wohnhäuser. Etwas Schreckliches, etwas Dämonisches waltete über der alpinen Schicksalschronik von 1866. – Eine heitere Schaar züricherischer Polytechniker verlegen einen ihrer Kneipabende (wie dies auch im Sommersemester anderer Jahre zu geschehen pflegte) in ein benachbartes am See gelegenes Wirthshaus, fahren in einem Dutzend Kähnen bei Tage dorthin, Professoren kneipen mit, man ist in prächtigster Laune und tritt, allerdings bei etwas dunkeler Nacht, die Rückfahrt mit den gleichen Fahrzeugen an. Alle fahren gut, nur ein Kahn füllt sich nach und nach mit Wasser, weil nicht genug gekalfatert, und sinkt, und mit ihm sinken zwei hoffnungsvolle Jünglinge, des Schwimmens unkundig, während die Anderen mit großer Anstrengung sich zu retten vermögen. – Weiter! – Ein junger Engländer zeichnet an der Axenstraße, hoch überm Vierwaldstätter See, auf einem Feldstuhle sitzend, sieht sich um, verrückt den Stuhl ein wenig, verliert das Gleichgewicht und stürzt in den See. Die Tiefe gab seinen Leichnam nicht zurück. – Ein preußischer Officier, Lieutenant von Wedell, den sein Genius in den Mordschlachten Böhmens schirmend deckte, macht zur Erholung noch eine Reise zu seinem am Thuner See lebenden Freunde und von dort Excurse in’s Gebirge. Er steigt auch die Allerwelts-Passage von Grindelwald über Wengernalp hinauf, allein, ohne Führer, will drüben in’s Lauterbrunnemthal hinab, sieht das Dorf links zu seinen Füßen freundlich winkend liegen, verläßt den breiten, sichern Reitweg und folgt einem ihm scheinbar näheren, weniger betretenen Fußpfade, kommt auf eine jener vertical zur Thalsohle abstürzenden Fluhen (Felsenwände), gleitet aus und – wird mit zerschmettertem Körper gefunden.

Er hatte keinen Führer! – Drei Engländer, von denen der Eine schon früher einer Besteigung des Montblanc beigewohnt hatte, wagen es, gleichfalls ohne Führer (reglementarisch soll für eine Montblanc-Besteigung jeder Reisende seinen eigenen nebst Träger haben) den Weg anzutreten. Man hatte sie in Prieuré (Hauptort von Chamounix) dringend gewarnt, aber sie hatten lachend der Warnung gespottet. Gespannten Blickes verfolgten mit dem Fernglase Führer und Fremde vom Thale aus die Wagefahrt; und wirklich! es schien, als wolle das Glück sie begünstigen. Da plötzlich rutscht der Eine und zieht, durch das Gletscherseil an seine Gefährten gefesselt, auch diese zum Sturz, sie verschwinden und die Zuschauer im Thal erkennen klopfenden Herzens: in diesem Augenblicke enden drei Menschenleben. Eine Schaar beherzter Männer macht sich auf; man sucht; zwei werden gerettet, – der Dritte schläft den Todesschlaf im Eisgewande des höchsten Bergriesen von Europa. – Noch ein anderer Sohn Albions kommt mit seiner Mutter und zwei Schwestern nach Chamounix, im October, will auch den „Monarchen“ (wie die Thalleute den Montblanc nennen) unter seine Füße zwingen, während man ihm, der späten Jahreszeit halber, abrathet. Indessen er findet zwei Führer, welche mit ihm gehen; auch eine seiner Schwestern hat anfangs die Absicht das Wagestück mit zu unternehmen, steht jedoch, bald einsehend, daß ihre Kräfte nicht ausreichen, davon ab und kehrt um. Unseliger Weise schlagen die Führer, weil der neue Schnee sie sehr im Fortkommen hindert, einen Weg ein, den man seit vielen Jahren nicht mehr gemacht hatte, der aber etwas näher sein mag. Auch diese Expedition steigt gut und glaubt ihres Sieges gewiß sein zu dürfen. Da löst sich droben eine auf glatter Unterlage von altem Firn ruhende Schicht neuen Schnees ab, wächst an Umfang und Fallkraft, wird zur Lauine und begräbt alle Drei! –

Das sind acht Menschenleben, die unerwartet, urplötzlich, im frohesten, freudigsten Lebensgenusse der jähe Tod ereilte. Mit ihnen ist aber die Trauerliste noch nicht geschlossen. Noch zwei Fälle sind zu erwähnen, deren Unglücksgeschichten zu den ergreifendsten gehören.

Der erste betrifft den Sturz des vortrefflichen Hugo Wislicenus (Doctor der Philosophie, Lehrer der altdeutschen Sprache am eidgenössischen Polytechnikum und der Universität so wie an der Kantonsschule in Zürich und am Lehrerseminar in Küßnacht), unweit der Tödi-Clubhütte am 8. August. Ueberangestrengt waren ihm die Sommerferien bis zur letzten Woche vorübergegangen, ohne ihm Tage der Erholung, der neuen Kräftigung an Geist und Körper zu schenken. Endlich war die Ferienarbeit über „das Nibelungenlied als Kunstwerk“ zum Abschluß gebracht, und der eifrige germanische Forscher wollte die noch wenigen freien Tage zu einer erfrischenden Wanderung in die ihm liebe große Alpenwelt benutzen. Auch er schied freudig von den Seinen, ohne die Ahnung des Nimmerwiedersehens und noch unentschlossen, welche Tour er machen wolle. Im Allgemeinen sollte das Glarnerland und einer der Paßübergänge nach Graubünden oder Uri sein Wanderziel sein. So verging die zweite Augustwoche. Als der durch seine große Gewissenhaftigkeit und pünktliche Pflichterfüllung stets sich auszeichnende junge Mann am Tage des Wiederanfanges der Lehrstunden nicht zurückgekehrt war und auch brieflich keine Gründe seines Nichtkommens gesandt hatte, brachen sein greiser Vater[1] und seine Brüder sammt einem Vetter und Schwager auf, den Vermißten auf verschiedenen Wegen zu suchen, seine Spuren zu verfolgen. Dem ältesten Bruder, der Professor der Chemie an den höheren züricherischen Lehranstalten ist, gelang es zuerst, in dem ganz im Hintergrunde des Linththales gelegenen Wirthshause zum Tödi den ersten sicheren Haltpunkt zu finden. Dort hatte der Gesuchte vom 7. zum 8. August übernachtet und seinen Namen in’s Fremdenbuch geschrieben und der Wirth erinnerte sich, daß dieser Herr zur Oberen Sandalp (vier Stunden höher) hinaufgestiegen sei, mit der Absicht über den Sandfirn und Sandgrath (eine Gletscherwanderung 8640 Fuß über Meer) am Fuße des Tödi vorüber hinab nach Dissentis in’s Vorderrheinthal zu gehen. Auch der Senn droben, ein gewisser Friedli, entsann sich des Gesuchten sogleich und theilte mit, daß der Fremde, vom Sandgrath ohne Führer herabkommend, frühzeitig am Nachmittage in seiner Hütte eingekehrt sei und sich erkundigt habe, ob er bei ihm allenfalls übernachten könne, worauf ihm zustimmende Antwort geworden sei. Es geht daraus hervor, daß Wislicenus eine oder zwei Stunden früher die Hütte passirt und allein ohne Führer versucht hatte, den Weg über den Sandfirn zu finden, dann aber, die Unmöglichkeit des Alleingehens erkennend, wieder umgekehrt und zur Hütte zurückgegangen war. Da, wie erwähnt, die Sonne noch hoch stand, so wollte der stets Thätige die Zeit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Es mochte ihn interessirt haben das gastliche Steinhaus kennen zu lernen, welches der Schweizerische Alpenclub jüngst erst für die Besteiger des Tödi am Grünhorn hatte erbauen lassen, und da es bis dorthin etwa noch drei Stunden und der Weg, wie er glaubte, ohne Führer zu finden war, so verließ er die Sandalphütte in dieser Richtung. Gegen Abend soll nach Aussage sämmtlicher Thalleute und der Sennen ein Unwetter im Gebirge losgebrochen sein, das an Wildheit und Zerstörungswuth kaum seines Gleichen gehabt habe. Schwarze Nebel stürmten herein, Blitz und Donner tobten in gräßlicher Entfesselung und die Atmosphäre schüttelte Schneemassen so dicht herab, daß am anderen Morgen an manchen Stellen der Schnee mehrere Fuß hoch lag.

Wislicenus war nach diesem Gewitter nicht wieder in die Sandalphütte zurückgekommen, und der Senn wähnte, er habe in der Clubhütte übernachtet und sei dann in irgend einer Richtung am anderen Tage weiter gewandert. – Nach diesen Mittheilungen mußte es den Suchenden leider fast zur Gewißheit werden, daß der Vermißte verunglückt, wohl nicht mehr am Leben sei. Von den tüchtigsten, ortskundigsten Führern geleitet, wanderten sie des Roethi und dem dahinter gelegenen Bifertenfirn zu und suchten zwei Tage lang bis über die Clubhütte hinaus, – aber vergeblich. Das einzige Resultat war das Auffinden einiger Spuren von Fußtritten und einem Alpenstock auf dem Bifertengrätli, und es blieb nichts übrig als anzunehmen, Wislicenus sei hier gewesen und auf dem darunter liegenden Gletscher in eine Spalte gestürzt. Weitere Nachsuchungen waren des frischen Schnees halber unmöglich

  1. Sein Vater ist der als freier theologischer Forscher durch sein Bibelwerk berühmte und vielen Lesern der Gartenlaube bekannte Prof. Gust. Ad. Wislicenus.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_750.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)