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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

und unnütz und die Auffindungs-Expedition kehrte unverrichteter Dinge, nur durch die Gewißheit bereichert, daß der Gesuchte ein Opfer seiner Gebirgsliebe geworden sei, zurück. So zerschmetternd und bündig die Nachricht war, und so wenig man nur noch die leiseste Spur von Hoffnung nähren durfte, so begnügte sich der alte Vater nicht mit derselben; er wollte wissen, wo sein lieber, wackerer Sohn verunglückt sei, und das letzte und äußerste Mittel nicht unversucht lassen. Darum setzte er in der Glarner Zeitung einen Preis von vierhundert Franken für den aus, der seinen Sohn auffinde. Das regte die Forschlust aufs Neue bei den ohnedies theilnehmenden Thalbewohnern an, und endlich am 25. August meldete der Telegraph nach Zürich die Trauerbotschaft: Der Leichnam sei gefunden. Alle Angehörigen eilten hin.

Der Ort, an welchem, und die Lage, in welcher man den Körper fand, so wie der Zustand desselben und das zerstreute Umherliegen der Effecten ließen kaum einen Zweifel übrig, wie die Katastrophe vor sich gegangen sein möge.

Der Verunglückte mochte die Clubhütte bereits in Sicht gehabt und sich bemüht haben sie zu erreichen, als ihn der Nebel einhüllte und das Wetter ihn überfiel. Daß er mit letzterem und gegen den Schneesturm zu kämpfen hatte, davon zeugte sein bis oben hin zugeknöpfter Rock und das außer dem Halstuche noch umgebundene Taschentuch. Welch gräßliches Ereigniß aber ein Schneesturm im Gebirge ist, habe ich in meinem Alpenbuche[1] ausführlicher erzählt und verweise darauf. Da mag er in dem ihn umgebenden Aufruhr der Elemente die Richtung verfehlt haben, – die Kräfte mögen allgemach, trotz des ungemein starken Körpers und der ungeschwächten Dauerfähigkeit des dreißigjährigen jungen Mannes erlahmt sein (denn wer vermöchte wider solche Gewalten dauernd anzukämpfen?); – wahrscheinlich ein Fehltritt auf der zu passirenden Riesete (jäh hinabsinkende Gebirgsfläche von rutschendem Felsgetrümmer überdeckt) – und der Todessturz war da.[2] Es war dieses aber nicht ein einziger Moment des Zerschmettertwerdens, sondern wohl ein mehrere Minuten dauernder Kampf um Rettung. Denn als man ihn auf dem Rücken liegend unterm Schnee fand, war die Rückseite des Körpers und der Kleidung fast unverletzt, während die Stirn ganz mit Blut unterlaufen, das Nasenbein gebrochen, die Hände an ihren äußeren Flächen ebenso wie ein Knie und eine Hüfte abgeschunden und die Kleider an der Brustseite von oben nach unten aufgerissen waren. Er mag etwa zweihundert Fuß über die ob seiner Lagerstätte aufsteigende steile Riesete, auf der Bauchseite liegend mit dem Kopfe voran, herabgerutscht sein und vielfach den Versuch sich zu halten gemacht haben, bis er, endlich über eine noch steilere Felswand sich überschlagend herabstürzte und besinnungslos auf dem Rücken liegen blieb. Unbedingte Todes-Ursache dürfte der Sturz an und für sich noch nicht gewesen sein, man nimmt an, daß die letzten Lebensreste durch die Kälte des fußhoch über ihm sich aufthürmenden Schnees paralysirt wurden. Daß er diese Rutschfläche von etwa zweihundert Fuß zurückgelegt haben mußte, davon zeugten die längs dieser Riesete aufgefundenen zerstreuten, seiner Reisetasche entfallenen Gegenstände, Wäschestücke und Bücher.

Hugo Wislicenus war ein Mensch von ganz besonders innigem und treuem Gemüthe, von scharfem Verstande, vorwiegend ernst und zurückhaltend, aber in traulichem Kreise von herzlicher Fröhlichkeit und Offenheit; gewissenhaft, mild, schlicht und anspruchslos, ein vortrefflicher Sohn und Bruder, – ein Mensch und Freund, dessen Hingang Thränen werth ist. Er ruht auf dem Friedhofe zu Linththal. Die Hinterbliebenen wollen ihm eine Denktafel in der Nähe der Pantenbrücke setzen.

Dies ist seit zwei Jahren der zweite Fall, den die Lehrerschaft der züricherischen Hochschule zu beklagen hat. Auf gleiche Weise kam am 20. Juni 1864 Dr. Wilhelm Kabsch, Privatdocent der Botanik, am Hohenkasten im Kanton Appenzell ums Leben, wenn auch nicht durch die Wuth der Elemente zum Sturz geschleudert, so doch zunächst dadurch, daß auch er der Warnung mißachtet und keinen Führer mitgenommen hatte.

Möchten doch die wiederholten Unglücksfälle der letzten Jahre endlich einmal zur großen und allgemeinen Warnung werden, Wanderungen in höhere und wildere Gegenden der Gebirge nie ohne zuverlässige, kräftige und ortskundige Führer zu unternehmen. Schiller’s Tell sagt: „Den schreckt der Berg nicht, wer darauf geboren!“ Eben deshalb, weil der Aelpler im Gebirge geboren und aufgewachsen ist, weil seine Kräfte gestählt, seine Blicke adlergleich geschärft sind und sein ganzes Wesen gleichsam instinctiv ausgerüstet ist, – eben deshalb vertraue man sein Leben ihm an, der Schritt und Tritt und die Gefahren kennt, und glaube nicht, daß Kühnheit und Kräfte allein den Bergsteiger ausmachen. Zwischen dem Alpensohne und dem Manne des Flachlandes oder gar dem Städter liegt eine große Kluft der Fähigkeitsverwandtschaften.

Ein anderer Unglücksfall, eigentlich, unter genauer Betrachtung der Umstände, des Ortes und der Personen, der entsetzlichste von allen – ist der Tod der Gattin des Herrn Professor Delffs in Heidelberg und zweier Damen aus Irland im Taminathal. Da die Schreckensnachricht und ausführliche zahlreiche Schilderungen dieses Unglücks alle Zeitungen durchliefen, so dürfen wir uns darauf beschränken, hier nur zu näherer Verständigung eine gedrängte landschaftliche Schilderung der Unglücksstätte mitzutheilen.

Im sanct-gallisch-bündnerischen Rheinthale, dort wo Deutschlands schönster Strom seine eigentliche Hochgebirgs-Heimath Rhätien verläßt und in breitere Thal-Ebenen hinaus tritt, liegt in wunderbar schöner Umgebung das von Jahr zu Jahr mehr besuchte Bad Ragatz. Im Sommer ist es halb Stadt, halb Alpendorf, in welchem stolze Comfort-Hôtels über die steinbelasteten, alpenheimeligen Schindeldächer hervorragen, strotzender Modeluxus im schwerrauschenden Moiré-antique-Kleid sich mitten unter Ziegenheerden

  1. Die Alpen in Natur- und Lebensbildern von H. A. Berlepsch; Verlag von Costenoble.
  2. Der mit Wislicenus, dem Vater, befreundete Redacteur dieser Blätter erhielt von demselben eine briefliche Mittheilung über dessen Gang zur Unglücksstätte, aus welcher wir das Nachstehende hier einfügen: „Ich reiste Freitag den 29. September, nachdem der Tödiwirth uns angezeigt, daß die oberen Gegenden schneefrei und das Wetter günstig sei, mit meinen Söhnen Johannes und Ulrich nach dem Tödiwirthshause ab. Am andern Morgen früh fünf Uhr brachen wir mit den Führern Thut, Vater und Sohn, und begleitet von den wackern Wirthsleuten und drei ihrer Verwandten, welche unsern lieben Hugo, den sie lebendig und todt bei sich aufgenommen haben und dessen Grab sie schmücken und erhalten, wie einen Bruder ansehen und dadurch unserer Familie auf das Freundschaftlichste verbunden worden sind, nach der Unglücksstätte auf. Der Weg führt in einer Felsenöde über die untere Sandalp etwa fünftausend Fuß bergauf, meist auf Gestein, zuletzt nur noch auf Felsgetrümmer. Auf der untern Sandalp waren noch Sennen; die obere, welche aber auf geradem Wege nicht berührt wird, war bereits verlassen. Wir stiegen am Bifertengletscher hinauf, und langten etwa um zwölf Uhr am Ziele an, indem ich meinerseits, meinem Alter gemäß und dazu durch Kummer und eine vorhergehende fast schlaflose Nacht geschwächt, den Weg um eine bis zwei Stunden verlängerte. Die Gegend zwischen Bifertengrat und Grünhorn, welche mein Hugo hatte durchschreiten müssen, besteht aus Gletscher und Felstrümmern, welche letztere aber auch den Gletscher an seinem untern Theile nur überdecken, was man beim Steigen gelegentlich an den offenen Eisspalten wahrnimmt. Der Abhang, welchen er herabgestürzt ist, besteht aus sehr steil abschüssigem Felsgetrümmer, an welchem man nur mit Mühe und Vorsicht hingehen kann. Diese ‚Rieße‘ (Riesete), wie man dergleichen hier nennt, geht mehrere hundert Fuß hoch, und vielleicht eben so breit, neben dem Grünhorn von der steilen Felswand des Tödigipfels herab. Man muß nothwendig über sie gehen, wenn man auf das Grünhorn und in die Clubhütte gelangen will. Der Steinhaufen, welchen die Finder gerade oberhalb des Hauptes des Aufgefundenen errichtet hatten, war noch vorhanden. Der Sturz ist in dem gelben Streifen der verschieden gefärbten Rieße geschehen. Mein Sohn Ulrich fand etwas weiter oben noch ein Taschentuch seines Bruders, hinter einen Stein festgeklemmt. Johannes holte den Alpstock aus der Clubhütte, welche alle außer mir bestiegen, wohin denselben die spätern Finder gestellt hatten. Ein besonderer Felsabhang findet sich in der Fallbahn nicht, dagegen einige größere, fast mannshohe Blöcke. Noch lag ein Theil des Schnees dort, aus welchem der Verunglückte gezogen worden war. Die von dem dritten Finder, der aber nicht gleich anfangs nahe dabei gewesen war, ausgegangene Angabe, daß derselbe die eine Hand unter dem Kopf gehabt, erklärte Thut Sohn, der ihn zuerst gefunden, entschieden für unwahr. Die Kleider waren durch Rutschen hinaufgeschoben gewesen, die Reisetasche hatte, ebenso gewaltsam aufwärts gezogen, unter dem Nacken, der Kopf auf bloßem Gestein gelegen, Arme und Beine nach unten in natürlichem Verhältniß. In den Seitentaschen des Ueberziehers hatten sie noch Brod und Fleisch gefunden. All diese Umstände sprechen für augenblickliche und dauernde Bewußtlosigkeit, wenn nicht für augenblicklichen Tod, noch entschiedener, als wir früher meinten. Leider hatte ich mich, allerdings bereits sehr erschöpft und um den Rückweg selbst etwas besorgt, von den Begleitern bestimmen lassen, aus Rücksicht auf sie ein Stück vor der Rieße im Schutze einiger Felsblöcke zurückzubleiben, von wo aus ich indeß die Stelle ganz nahe vor mir hatte, so daß ich Alles gut sehen konnte. Ich gedenke im nächsten Jahre von der nähern Obersandalp aus die Stätte mit mehr Muße und gründlicher in Augenschein zu nehmen. So schmerzlich mir das Alles ist, lebe ich doch darin dem Andenken meines lieben Hugo und genüge dem Drange, mir Alles, was seinen Tod betrifft, so klar als möglich zu machen und immer wieder vor Augen zu führen. Dann soll auch die Denktafel an schöner Stelle bei der Pantenbrücke in den Felsen gefügt werden, wo bekannte und unbekannte Freunde, wenn sie die Gegend besuchen, des lieben und edeln Todten und unser gedenken mögen. G. A. Wislicenus.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_751.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)