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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Vogelfrei.
Nach den Untersuchungsacten erzählt.


Gegen Ende des Jahres 1859 herrschte am Niederrhein eine außerordentliche Aufregung. Alle Blätter, namentlich die kleinen Localblättchen, welche in den Städtchen des Niederrheins Moers, Rheinberg und Xanten erschienen, brachten zahlreiche Nachrichten, daß sich ein verwegener, mit Waffen versehener Räuber auf der Lönninghardter Haide, einer von jeher verrufenen Gegend, herumtreibe und Land und Leute unsicher mache. Diese Aufregung nahm noch zu, als aus der Festung Wesel sogar ein Militärcommando ausgesandt wurde, um den angeblichen Räuberhauptmann einzufangen. Es gelang dies auch endlich. Brinkhoff – so hieß der Gefürchtete – wurde verhaftet. Aber man verhaftete keinen Räuberhauptmann, sondern einen jungen Menschen von einundzwanzig Jahren, der, durch einen zweijährigen Aufenthalt in Amerika an Freiheit gewöhnt, sich nicht entschließen konnte, freiwillig in’s Zuchthaus zu wandern; einen jungen Ehemann, der sich nicht bereit finden lassen wollte, kurz nach der Trauung sich von seiner reizenden, kaum achtzehnjährigen Frau zu trennen; ein armes gehetztes Wild, das keine Lust hatte, sich wie einen tollen Hund todt schießen zu lassen, sondern mit aller Energie, die allerdings einer bessern Sache würdig gewesen wäre, seine Freiheit und sein Leben der Staatsgewalt gegenüber vertheidigte! Die Geschichte ist merkwürdig und lehrreich, sie thut dar, wie ein Mensch, ohne von Natur böse oder roh zu sein, aus einem ungemessenen Freiheitstrieb zum Mörder werden kann.

Brinkhoff ist der Sohn braver Eltern, die in Alpen, einem Dorfe an der Straße zwischen Geldern und Wesel, wohnen. Er erlernte das Schreinerhandwerk und machte sich in seiner Jugend dadurch bemerklich, daß er zu allen waghalsigen Knabenstreichen aufgelegt war. Er konnte z. B. wie eine Katze klettern, und machte als Knabe manchmal den Spaß, das Dach eines Bauernhauses blitzschnell zu erklimmen, durch den Schornstein zu verschwinden und plötzlich geschwärzt, wie ein kleiner Teufel, unter den Bauern in der Küche zu erscheinen.

Leider wohnte damals in Alpen viel schlechtes Gesindel, das vom Diebstahl lebte; in diese Gesellschaft gerieth Brinkhoff zu seinem Unheil. Die Bande fand ihn wegen seiner Behendigkeit zu ihren Expeditionen sehr brauchbar und veranlaßte Brinkhoff, noch ehe er siebenzehn Jahre alt war, sich an schweren Diebstählen zu betheiligen. Die Folgen konnten natürlich nicht ausbleiben. Brinkhoff wurde verhaftet und am 13. März 1857 vom kgl. Assisenhofe zu Cleve zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren verurtheilt. Zur Abbüßung dieser Strafe wurde er in’s Zuchthaus nach Werden abgeführt. Dort wußte er sich bald bei den Beamten durch seine Geschicklichkeit im Arbeiten und durch sein einnehmendes Benehmen beliebt zu machen; man betrachtete ihn kaum wie einen Verbrecher, sondern wie ein Kind, das einen Fehltritt gethan und das sich bessern will. Er aber benutzte die für ihn günstige Meinung und war plötzlich auf unerklärliche Weise aus Werden verschwunden. Indem er einsah, daß er in Europa nicht mehr bleiben konnte, schiffte er sich am 2. Januar 1858 in Rotterdam nach Nordamerika ein.

Dort war für, ihn, den geweckten und unternehmenden Menschen, das richtige Feld. Eine in Amerika verheirathete Schwester, die in guten Verhältnissen war, bot ihm einen Anhaltspunkt. Als tüchtiger Schreiner verdiente er bald reichlich so viel Geld, daß er nach der Arbeit als Gentleman auftreten und sich noch Ersparnisse zurücklegen konnte. Im Besitze von einigen Mitteln begann er einen Cigarrenhandel, der sich gut rentirte, da er es verstand, billig zu kaufen und theuer zu verkaufen; kurz, nach einem Jahre war er ein gemachter Mann, der über zwölfhundert baare Dollars verfügen konnte. Seine Geschäfte führten ihn nach dem Norden und nach dem Süden, nach dem Osten und Westen. Im Juni 1859 kam er aus Californien nach Philadelphia, kehrte dort in einem der ersten Hotels ein und machte in demselben die Bekanntschaft der Caroline Ernst, eines siebenzehnjährigen hübschen, schwarzäugigen deutschen Mädchens, welches im Hotel das Departement des Kaffees unter sich hatte. Die jungen Leute waren bald einig. Nach echt amerikanischer Weise begaben sich die Liebenden bereits am dritten Tage ihrer Bekanntschaft zum Friedensrichter, der ihrem Herzensbunde die gesetzliche Weihe ertheilte.

Die junge Frau war eine deutsche Eingewanderte, gebürtig aus Sieglingen im Königreich Würtemberg. Sie hatte Sehnsucht nach der Heimath, und wollte gern den dort zurückgebliebenen Freundinnen ihren jungen, schönen und reichen Mann vorführen. Nachdem am 1. August die Heirath stattgefunden, begab sich das junge Paar bereits am 15. August zu New-York auf ein Dampfschiff und gelangte am 1. September wohlbehalten nach Hamburg. Nach einer kurzen Vergnügungsreise nach Amsterdam und einem heimlichen Besuche bei den Eltern in Alpen reisten Beide in die Heimath der jungen Frau nach Sieglingen. Brinkhoff, in seinem Aeußern vollständig Gentleman, legitimirt durch einen regelrechten Paß, in dem das amerikanische Bürgerrecht, welches er sich dort erworben, bescheinigt war, nebenbei ein ausgezeichneter Jäger und Schütze, war in der Heimath seiner Frau bald eine gesuchte Persönlichkeit. Der Amerikaner wurde zu Jagden eingeladen; dafür revanchirte er sich glänzend, gab im Gasthofe Gesellschaften, machte den Verwandten seiner Frau Geschenke; kurz, die sauer erworbenen Dollars rollten und rollten, bis dieselben auf ein kleines Häufchen zusammen geschmolzen waren. Da nun der amerikanische Gentleman sich in der Heimath seiner Frau nicht als Schreinergeselle entpuppen wollte, so beschloß das junge Paar, nach Alpen zu reisen und von dort mit Hülfe von Brinkhoff’s Eltern sich wiederum nach Amerika einzuschiffen. Schon am 1. November war in Darmstadt der letzte Dollar ausgegeben; um die Reise fortsetzen zu können, wurden die Schmucksachen der Frau versetzt. In Mainz war die Baarschaft soweit zusammengeschmolzen, daß Brinkhoff seine Frau dort zurücklassen mußte. Er reiste nach Alpen und erst am 8. November, nachdem die Frau auch ihre letzten guten Kleidungsstücke verkauft hatte, zog nächtlicher Weise nicht der amerikanische Gentleman, nein, der preußische entsprungene Zuchthaussträfling in Alpen bei den Eltern ein. Ihn durfte Niemand sehen, denn die Luft, die er athmete, durfte er gesetzlich nicht athmen; er mußte das Licht scheuen, denn jeder Beamte der Polizei war verpflichtet, ihn sofort zu verhaften und in’s Zuchthaus abzuliefern! Der an das Uebermaß persönlicher Freiheit gewöhnte amerikanische Bürger sollte in’s Zuchthaus wandern und sich dort mit fünfundzwanzig Hieben zum Willkommen begrüßen lassen?[1]

Der alte Vater, der sich als Schachtmeister mit seiner Familie kümmerlich ernährte, konnte dem Sohne nicht helfen; er hatte sein letztes Geld nach Mainz geschickt, um die Schwiegertochter auszulösen. Brinkhoff war in Verzweiflung. Er wollte wiederum zum Verbrechen übergehen; mit dem Revolver in der Hand wollte er bei einem reichen Gutsbesitzer in der Nacht eindringen und sich das Reisegeld nach Amerika holen. Aber sein braves Weib hielt ihn zurück und erklärte ihm, sie wolle lieber vor Hunger sterben, als ein auf unrechtmäßige Weise erworbenes Stück Brod essen! Eins vergaß B. in seiner Lage, daß es in Europa noch Menschen giebt, die dem Elend des Nebenmenschen gern abhelfen, und die nicht, wie oft der Amerikaner, die Tasche voll Dollars, den am Wege Schmachtenden keines Blickes würdigen. Wäre Brinkhoff damals ohne Revolver vertrauungsvoll zu dem reichen Gutsbesitzer gegangen, den er berauben wollte, so würde ihm dieser das Geld zur Rückreise nach Amerika geschenkt haben. Aber Brinkhoff hatte in Amerika den Glauben an die Menschheit verloren.

Was kommen mußte, blieb nicht lange aus. Es wurde bald in dem kleinen Dorfe Alpen bekannt, daß Wilhelm Brinkhoff aus Amerika zurückgekehrt sei. Merkwürdigerweise unternahm der Bürgermeister von Alpen nichts gegen ihn. Er ging ihm aus dem Wege und brachte so Brinkhoff die Idee bei, die Polizei fürchte sich vor ihm. Ein großer Theil der späteren traurigen Vorfälle ist der Schwachheit dieses Bürgermeisters zur Last zu legen. Wäre derselbe sofort mit Energie aufgetreten, so würde Brinkhoff nie gewagt haben, was er gethan.

Er wurde jetzt immer kühner, ging am Tage aus, besuchte die Wirthshäuser und legte in denselben einen geladenen Revolver vor sich, mit dem Bemerken, daß er Denjenigen, der ihn verhaften wolle, niederschießen

  1. Solche Strafe wird gewöhnlich Denjenigen dictirt, welche aus dem Zuchthause entflohen sind und wieder eingebracht werden. Zuchthaussträflinge sind der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig erklärt und können nach den Disciplinargesetzen körperlich gezüchtigt werden.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_054.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2017)