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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

schwerlich noch anderswo vorgekommen sein. Wir glauben daher auf die Nachsicht der Leser Anspruch zu haben und zugleich einen Beitrag zur Geschichte des deutschen Schulwesens zu liefern, wenn wir auf Grund officieller Actenstücke die Veranlassung und den Verlauf jenes Aufruhrs, der in der Gegend selbst unter dem Namen des „Kirchheimer-ABC-Buch-Krieges“ bekannt ist, darzustellen versuchen.

Unter den zahlreichen Territorien, in welche vor Ausbruch der französischen Revolution die heutige Rheinpfalz zersplittert war, befanden sich auch die dem Fürsten von Nassau-Weilburg gehörigen fruchtbaren Herrschaften Kirchheim und Stauf am Fuße des Donnersberges, deren Bewohner vor vieler anderer Herren Unterthanen das Glück einer wohlwollenden und erleuchteten Regierung genossen. Namentlich seit Fürst Karl Christian (1753–1788), der Urgroßvater des im verflossen Sommer von Preußen entsetzten Herzogs Adolph von Nassau, seine gewöhnliche Residenz in dem Städtchen Kirchheimbolanden aufgeschlagen, wurde das Emporkommen des Landes nach allen Richtungen gefördert, so daß sich noch heute die betreffenden Gemeinden schon im Aeußeren vortheilhaft auszeichnen. Natürlich blieben dabei auch die geistigen Interessen der Bewohner nicht unberücksichtigt. Als daher in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Philanthropinismus die Aufmerksamkeit der Regierungen wie der Regierten auf die Gebrechen und Mängel lenkte, unter denen das damalige Schulwesen allenthalben darniederlag, blieb man in der Herrschaft Kirchheim mit Reformen um so weniger zurück, als in nächster Nähe, in dem leiningischen Schlößchen Heidesheim, einer der Hauptvertreter jener pädagogischen Richtung, der übel berüchtigte Karl Friedrich Bahrdt, seine übrigens verunglückten Erziehungsversuche anstellte.

Um solche Reformen zunächst in den Volksschulen des Residenzstädtchens herbeizuführen, traten im Spätsommer des Jahres 1776 die dortigen beiden lutherischen Pfarrer Hahn und Lieberich mit dem reformirten Pfarrer Des Côtes in einen Verein zusammen. Ihr Unternehmen, dessen Plan sie dem Fürsten vorlegten, fand nicht nur die volle Billigung desselben, sondern ward durch Decret vom 12. Sept. unter dem Namen einer „gemeinschaftlichen Erziehungsanstalt“ mit officiellem Charakter auf die sämmtlichen weilburgischen Gebiete des linken Rheinufers, die Aemter Kirchheim und Alsenz, ausgedehnt und der Regierung wie dem Consistorium deren eifrige Förderung anbefohlen. Unter dem Vorsitze des fürstlichen geheimen Raths Freiherrn von Botzheim eröffnete die Anstalt alsbald ihre reformatorische Thätigkeit, bei der sie sowohl die Methode und den Umfang des Unterrichts als die Disciplin in’s Auge faßte. Vor Allem bezweckte sie eine Aenderung der bisherigen Weise des Religionsunterrichtes, dessen Mangelhaftigkeit sie es hauptsächlich zuschrieb, wenn noch so rohe Unwissenheit, schwarzer Aberglaube und mit ihnen verbunden menschenfeindliche Gesinnung verbreitet seien. Wie dieser Unterricht aber beschaffen war, das schildert ein damaliger officieller Bericht drastisch mit den Worten: „Der Schulmeister, dem derselbe anvertraut ist, lehrt den Jungen die eine Hälfte des Katechismus buchstabiren und lesen, die andere Hälfte muß er (sic!) auswendig lernen, von beiden Hälften werden ihm die bloßen Worte analytisch beigebracht. Dann ist der Unterricht vollendet und der Bürger und Christ sind fertig.“ Von nun an sollte der religiöse Lehrstoff nicht nur von dem übrigen getrennt, sondern auch, gereinigt von einem todten Formalismus und mit größerer Berücksichtigung des praktischen Christenthums, in vernünftiger und faßlicher Weise der Jugend beigebracht werden, doch so, daß „die symbolischen Katechismen, diese so ehrwürdigen Denkmäler von dem Eifer unserer Reformatoren, in den Schulen, wie vorher, in ihrem Werth und Gebrauch blieben.“

Das Institut ging demnach von Principien aus, welche den modernen Schulplänen zu Grunde liegen. Allein wie noch heute, so trat diesen Grundsätzen auch damals der hyperorthodoxe Theil der Geistlichkeit entgegen und der Widerstand gewann in der Herrschaft Kirchheim durch die confessionelle Engherzigkeit und Gehässigkeit der lutherischen Mehrheit gegen ihre reformirten Mitbürger noch eine besondere Intensität. Hier war nämlich schon die freie Religionsübung und politische Gleichstellung, welche Fürst Karl August im Jahre 1738 seinen reformirten Unterthanen gewährt hatte, den lutherischen Geistlichen ein Stein des Anstoßes gewesen, der sie nicht müde werden ließ, bei ihren Parteigenossen die Toleranz des Landesherrn zu verdächtigen. Als dann später (1760) der Sohn und Nachfolger jenes Fürsten, Karl Christian, bei seiner Vermählung mit der Prinzessin Karoline von Nassau-Oranien sich verpflichtete, die Kinder dieser Ehe im reformirten Glauben zu erziehen, wurde laut die Befürchtung verbreitet, die lutherische Lehre im Lande solle durch den Calvinismus verdrängt werden.

Es ist daher begreiflich, daß auch die Thätigkeit der Erziehungsanstalt, zumal schon deren Zusammensetzung aus Geistlichen beider Confessionen Bedenken erregte, von der Bevölkerung mit argwöhnischen Blicken betrachtet wurde. Allein die Anstalt, darum unbekümmert, verfolgte mit Eifer das vorgesteckte Ziel. Um den Unterricht stufenweise zu heben, verfaßte sie zunächst ein neues ABC-Buch, das einzig zum Lesenlernen und keineswegs zum Religionsunterrichte dienen sollte. Dasselbe unterschied sich von den bis dahin benützten Brönnerischen lutherischen und reformirten ABC-Büchern hauptsächlich dadurch, daß die in letztern befindlichen Religionsabschnitte, insbesondere der Dekalog und das apostolische Symbolum, die ohnehin in den Katechismen vorkommen, weggelassen und an Stelle der geschmacklosen Gebete und Gesangbuchsverse sinnige Sprüche und Kinderlieder aufgenommen waren. Außer aus den schon erwähnten pädagogischen Gründen war die Aenderung auch deshalb erfolgt, um das Buch für die in vielen Schulen vereinigten Kinder beider Confessionen gleichmäßig brauchbar zu machen. Ganz ähnliche ABC-Bücher, so das Nürnberger, das Leipziger von Weiße, das Berliner von 1766, waren kurz vorher in anderen lutherischen Ländern ohne allen Anstand eingeführt worden.

Trotz dieser Harmlosigkeit des neuen ABC-Buchs concentrirte sich gegen dasselbe der Widerstand der lutherischen Geistlichen und Gemeinden des Kirchheimer Gebietes. Während die bedächtigeren und ruhigeren Seelenhirten es mindestens für bedenklich hielten, daß die Kinder in Zukunft das ABC und Buchstabiren nicht mehr an den Psalmen David’s und frommen Gesangbuchsliedern erlernen sollten, glaubten die geistlichen Heißsporne aus dem „glaubenslosen“ ABC-Buch deutlich die Absicht der Regierung zu erkennen, die confessionellen Lehrunterschiede zu verwischen und eine Bereinigung der Glaubensparteien zu Gunsten der Reformirten herbeizuführen. Die ohnehin mißtrauisch gemachten Bauern aber, durch solche Befürchtungen ihrer Seelsorger noch mehr geängstigt, betrachteten schließlich ihr altes ABC-Buch als den letzten Hort ihres alten lutherischen Glaubens und die Einführung des neuen Buches als dessen Untergang. Rechnet man hierzu die überall und allezeit hervortretende bäuerliche Abneigung gegen Anschaffung neuer Schulbücher überhaupt, so wird man den hartnäckigen Widerstand der Kirchheimer Unterthanen gegen das ABC-Buch, wie er in der Folge hervortrat, eher begreiflich finden.

Kaum war nämlich in den ersten Wochen des Jahres 1777 das Büchlein vom Fürsten genehmigt und zu seiner sofortigen Vertheilung und Einführung den Lehrern zugesandt, als der Regierung von allen Seiten Nachrichten über Unzufriedenheit der Unterthanen zugingen. Anfangs ließen die Behörden die Anzeigen unbeachtet, in der Hoffnung, daß die Bauern sich bald an die Neuerung gewöhnen würden. Allein die einmal erregten Wogen, anstatt sich allmählich zu beruhigen, gingen täglich höher, bis sie zuletzt fast das ganze Ländchen überflutheten.

Der Hauptwiderstand zeigte sich zu Albisheim, wo man wenige Jahre zuvor auch dem – freilich etwas zu weit gehenden – Verbot von Leichensteinen und Grabkreuzen, „die Bürger und Bauern nur unnöthige Ausgaben verursachten“, offen getrotzt hatte. Auf Veranlassung von Nickel Morgenstern und Konrad Mann verpflichteten sich die dortigen Familienväter durch Unterschrift, die neuen ABC- oder (nach pfälzischem Provincialismus) „Namenbücher“ nicht anzunehmen. Dieses Beispiel wirkte ermuthigend auf die übrigen Gemeinden. Sie traten mittels Boten unter einander in Verbindung und beschlossen die Absendung einer Deputation an den Fürsten, um die Beseitigung des gefährlichen Buches zu verlangen. Als in Folge dessen wirklich sechs Unterthanen als Deputirte in Kirchheimbolanden erschienen und dem Fürsten eine mit vielen Unterschriften bedeckte Bittschrift überreichten, hörte dieser sie huldvollst an und suchte sie sowohl über die heilsamen Absichten der Erziehungsanstalt als über die Zweckmäßigkeit und Ungefährlichkeit des neuen ABC-Buchs zu belehren. Dasselbe geschah von Seite des Landesministers Freiherrn von

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_057.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2017)